Es ist nur eine Grenze

Grenzen
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Nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Europa Grenzkontrollen eingeführt. Sie waren ebenso wie heute nur als vorübergehende Maßnahme gedacht. Aber sie blieben – mit fatalen Folgen.

Sie verläuft zwischen Häusern und Feldern. Es ist nur eine Grenze. Irgendwann wurde sie gezogen und trennte über Jahre Ungarn und Österreich. Heute liegt sie zwischen dem Burgenland und der Steiermark. Die Straße heißt noch immer „Grenzweg“ und führt an Apfelbäumen, Weingärten, Pferdekoppeln und Wäldern vorbei – links und rechts kein Unterschied. Wäre das historische Schicksal ein anderes gewesen, hätte der Vertrag von St. Germain nicht vorgesehen, dass Deutsch-Westungarn an Österreich abgetreten werden muss, wäre hier später der Eiserne Vorhang verlaufen. Heute würden hier vielleicht Zäune gegen Flüchtlinge errichtet.

Die Region im Südosten Österreichs nahe an Ungarn und dem heutigen Slowenien kennt solche historische Grotesken: Nachdem das Kaiserreich zerfallen war, erlebte sie die Renaissance der Grenzsicherung. In einem Beschluss des Völkerbundes aus dem Jahr 1920 wurde festgehalten, dass nun Pässe ausgegeben werden, um der Bevölkerung die Möglichkeit zu bieten, über die eben erst errichteten Grenzen zu reisen. Gleichzeitig wurde mit Verständnis auf das Sicherheitsbedürfnis der neu entstandenen Nationalstaaten verwiesen. Die Maßnahme, so wurde ausdrücklich festgehalten, sei aber nur eine vorübergehende. Die Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen sollte später wieder hergestellt werden. „Die völlige Abschaffung der Restriktionen und die komplette Rückkehr zu Vor-Kriegs-Bedingungen soll – wie die Konferenz hofft – schrittweise in naher Zukunft erfolgen.“ (IV. Resolution des Völkerbundes vom Oktober 1920)

Aber es kam anders. Die Grenzen wurden spürbar. Sie schufen Identitäten, Nationen. Im Streit um die Sprache gab es Gewinner und Verlierer. Denn es musste angepasst werden, was zufällig zusammengewürfelt wurde. Der Schriftsteller Robert Menasse hat im Dokumentarfilm „Grenzfälle“ gemeinsam mit Regisseur Kurt Langbein die Sinnhaftigkeit solcher nationalen Grenzziehungen in Frage gestellt. Er wanderte für den Film entlang jener Linien, die nach dem Ersten Weltkrieg gezogen wurden – im Osten Österreichs, im Norden, Süden und Westen. Er besuchte gemeinsam mit Reinhold Messner den Frontverlauf zwischen Italien und Österreich in den Alpen. Hier wurde Meter um Meter für die Verschiebung einer Grenze gekämpft, die wenig später keine Bedeutung mehr hatte. Menasse vertritt eine These, die schwer zu widerlegen ist: „Grenzen sind unnatürlich.“ Sie schaffen eine Abgrenzung, die es sonst nicht gäbe. Sie dokumentieren nicht das Trennende, sie produzieren es.

Es war nie säuberlich und nie fair

Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, haben die Grenzen die Vermischung der Völker gestoppt. Aus der vorübergehenden Maßnahme der Grenzkontrollen wurde eine dauerhafte. Menschen sollten im Sinne der neuen Nationalstaaten getrennt werden, als könnten sie ethnisch sauber und fair aufgeteilt werden. Aber es war – siehe Tirol und Südtirol – nicht säuberlich. Und es war – siehe das Schicksal der vielen Vertriebenen nach den beiden Weltkriegen – nie fair. Der Wahn der Abgrenzung, der säuberlichen Trennung führte Europa in einen Nationalismus mit schrecklichen Auswirkungen und in den Holocaust.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es fast, als ob sich das gemeinsame Europa besonnen habe. In der Europäischen Gemeinschaft sollten die nationalen Grenzen überwunden werden. Konrad Adenauer schrieb 1953 in einem Artikel für die „Neue Literatur“ von dieser großen Aufgabe. „Die Zeit des Nationalstaats ist vorüber.“ Vier Jahrzehnte später, 1995, wurde durch das Schengen-Abkommen mit dem Abbau der Grenzkontrollen begonnen. Der ehemalige Beschluss des Völkerbundes wurde umgesetzt, die Schlagbäume wurden nach und nach wieder entfernt. 2004 folgten auch die Ostgrenzen Österreichs.

Vorübergehend, so heißt es heute, sind diese Grenzkontrollen wieder eingeführt worden – wegen der Flüchtlingskrise und wegen des Terrorismus. Für Wochen hieß es zuerst, dann für Monate, jetzt wird bereits von Jahren gesprochen. Wie lang wird es diesmal dauern?

Für jene, die an einem offenen, grenzenlosen Europa hängen, mag es tröstlich sein: Grenzen entstehen, sie werden verschoben, sie gewinnen Bedeutung und verlieren sie wieder. In einem der älteren Häuser nahe der vorübergehenden Trennlinie zwischen Ungarn und Österreich ist übrigens ein Grenzstein eingemauert worden. Er hatte seine Bedeutung verloren, diente einer ganz anderen baulichen Maßnahme.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)

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