Frau Auguste und ihr Arzt Dr. Alzheimer

Ein Foto der Patientin Auguste Deter
Ein Foto der Patientin Auguste Deter imago/epd
  • Drucken

Zum 100. Todestag von Alois Alzheimer am 19. Dezember eine Erinnerung an einen der berühmtesten Fälle der Medizingeschichte.

Eines der berühmtesten Krankenblätter der Medizingeschichte beginnt mit folgenden Sätzen:

„26.11.1901
Sitzt im Bett mit ratlosem Gesichtsausdruck.
Wie heißen Sie? Auguste.
Familienname? Auguste.
Wie heißt ihr Mann? Ich glaube Auguste.“

Die Patientin, Frau Auguste Deter aus dem Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, 51 Jahre alt, war von ihrem Ehemann in die Städtische Irrenanstalt gebracht worden. Ihr Zustand hatte sich in dem Halbjahr zuvor rapide verschlechtert, sie fand sich in ihrer Wohnung nicht mehr zurecht, trug Gegenstände hin und her, versteckte sie, hatte die Wahnvorstellung, ihr Mann betrüge sie, Angst, umgebracht zu werden, begann mitunter laut zu schreien. Vielleicht aus Wut über ihre eigene Unfähigkeit, den Alltag  in den Griff zu bekommen. Sie wurde schließlich nicht nur für ihre Familie eine unbewältigbare Last, auch die Nachbarn beschwerten sich über sie.  Ihr Hausarzt schlug als Diagnose „Gehirnlähmung“ vor.  

Eine Illustration des Wissenschaftlers Alois Alzheimer
Eine Illustration des Wissenschaftlers Alois Alzheimer imago/epd

„Anhaltend, ratlos, ängstlich“ sind die häufigsten Beschreibungen in der Krankenakte der Frau. Doch die gründliche körperliche Untersuchung, etwa was Reflexe, Stoffwechsel, Herztätigkeit betrifft, zeigt keinerlei Auffälligkeiten.  Das einzige Foto, das von der Frau erhalten ist, spiegelt diese Ratlosigkeit wider.  Fünf Jahre wurde die Frau, die als Auguste D. in die medizinische Literatur einging, in der Frankfurter Psychiatrie behandelt, ein Institut, das einen guten Ruf hatte. Hier wurden die Kranken nicht unter unmenschlichen Bedingungen weggesperrt, sondern man bemühte sich um die Nervösen und Wahnkranken und praktizierte moderne Methoden der Therapie. Ein Assistenzarzt mit Namen Alois Alzheimer kümmerte sich um den Fall Auguste D., seine Protokolle waren lange verschollen, weil sie irrtümlich unter einem falschen Jahrgang im Archiv der Uniklinik Frankfurt abgelegt waren. Erst 1995 tauchten sie durch Zufall auf und sind heute im Original einsehbar. Als sie  im Fachblatt „Lancet“ publiziert wurden, urteilte die Fachwelt positiv über Alois Alzheimer: Seine Protokolle, beruhend auf langen Gesprächen mit insgesamt 320 Patienten,  „lassen erkennen, dass er seine Patienten damals genauso befragte und untersuchte, wie wir es heute noch tun.“

„Ein eigenartiger Krankheitsprozess“

Auguste lebte noch fünf Jahre in der Frankfurter Klinik, ihr Zustand verschlechterte sich, sie lag zuletzt nur mehr inkontinent und völlig benommen im Bett, in einem Zustand „völliger Schwachsinnigkeit“ , „allgemein verblödet“, völlig stumpf“(Krankenakte). Als sie im April 1906 an einer Blutvergiftung wegen Wundliegens starb, war Alois Alzheimer Universitätsdozent in München, doch der Fall ließ ihn nicht los. Er bat um ihr Gehirn und die dreißigseitige Krankenakte und begann, seinen „Fall“ noch einmal zu bearbeiten. Er zerschnitt die Hirnrinden und prüfte unter dem Mikroskop die krankhaften Veränderungen, stellte die Abweichungen im Nervengewebe fest, knäuelartige Schlingen und Eiweißablagerungen. Er kam zu der Überzeugung, dass hier eine noch unbekannte Krankheit vorlag, der bescheidene Entdecker nannte seine sensationelle Erkenntnis einen „eigenartigen Krankheitsprozess“.

Mikroskop menschlicher Schädel und Unterlagen von Alois Alzheimer
Mikroskop menschlicher Schädel und Unterlagen von Alois Alzheimer imago/epd

Im November 1906 hielt er in Tübingen bei einem Kongress von Psychiatern und Neurologen einen Vortrag, doch die 88 Kollegen reagierten bei dieser Versammlung peinlich ignorant: Keiner merkte, dass hier gerade die zukünftige Krankheit des Jahrhunderts vorgestellt wurde, ohne Diskussion wechselt man nach Alzheimers Rede zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. Carl Gustav Jung war gerade angereist, die Psychoanalyse und Freud waren interessanter. Alzheimer könnte die Schuld bei sich gesucht haben, es lag einfach nicht genug Material vor, die klinische Beschreibung beruhte auf einer einzigen Frau, nämlich Patientin Auguste Deter, dann gab es nur noch eine neuropathologische Analyse ihres Gehirns. Alzheimer suchte weiter, nach weiteren Patienten, auf eigene Kosten. Zum Glück hatte er eine vermögende Witwe geehelicht, deren erster Mann an Gehirnerweichung gestorben war.

Alois Alzheimer agierte in der Öffentlichkeit bescheiden, hob immer die Leistungen anderer hervor. Sein Vorgesetzter Emil Kraepelin, damals der Papst der deutschen Psychiatrie, schlug schließlich der Fachwelt vor, die neue Krankheit nach seinem Mitarbeiter „Alzheimersche Krankheit“ oder „Morbus Alzheimer“ zu nennen. Geklärt war der Charakter der Krankheit damals noch nicht. Die Symptome wirkten wie die bei seniler Demenz, damals auch „Altersblödsinn“ genannt, aber Alzheimer entdeckte Patienten im Alter zwischen 45 und Ende sechzig, es stellte sich also die Frage, ob ein Unterschied zur senilen Demenz vorliegt oder nicht. Alzheimer hielt an der Theorie einer eigenen Krankheit fest, doch er kann sich bis zu seinem Tod 1915 nur schwer Gehör verschaffen. Die Alzheimer-Forschung stand erst an ihrem Anfang, sie ist heute noch bei weitem nicht abgeschlossen, ironischerweise gilt die Erkrankung heute als eine des hohen Alters.

imago stock&people

Den Namen Auguste Deter kennen heute nur wenige, bei Alois Alzheimer ist nur sein Vorname vergessen, doch durch das Eponym (sein Familienname wurde zur Krankheitsbezeichnung) leuchtet sein Ruhm fort, es ist wie bei Parkinson, Korsakow, Asperger nicht einmal mehr nötig, das Wort „Krankheit“ hinzuzufügen. Alois Alzheimer stammt aus einer Zeit, wo sich medizinische Forschung noch nicht wie in der Gegenwart zu Teamarbeit entwickelte, man hatte also in den Jahrzehnten vor und nach 1900 die besten Aussichten, mit einem Eponym geadelt zu werden. Heute werden Krankheiten beschreibend bezeichnet oder mit Abkürzungen versehen, wie AIDS oder ADHS, die Chancen auf individuelle Erhebung in den Olymp der medizinischen Lexika wie bei Alzheimer sind geringer geworden.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.