Margarethe Ottillinger: Der dreiste Menschenraub an der Zonengrenze

(c) Leykam
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Der Leidensweg der österreichischen Ministerialbeamtin führte 1948 in Stalins Gulag. Erst 1955 kehrte sie schwer krank heim – Ursula Strauss verkörpert sie in einem Spielfilm für den ORF.

Stefan Karner, der Historiker und in Graz lehrende Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, ist seit Langem Spezialist für sowjetische Archivbestände (siehe oben). Als er im Herbst 1991 die Erlaubnis bekam, die riesigen Aktenbestände der ehemaligen österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in Moskau einzusehen, suchte er sofort die Unterlagen über Margarethe Ottillinger (1919 bis 1992). Die kaum 29-jährige Diplomkauffrau und Sektionsleiterin im Ministerium Peter Kraulands wurde am 5. November 1948 an der alliierten Zonengrenze (Ennsbrücke) auf dem Weg nach Wien von den Sowjets aus dem Dienstauto heraus verhaftet und wegen „Spionage“ zu 25 Jahren Haft verurteilt. Sie litt sieben Jahre in sowjetischen Gefängnissen.

Es war das dreiste Kidnapping durch die Sowjets, das damals die österreichischen Behörden erregte, aber im vierfach besetzten Österreich galten andere Gesetze. Erst Jahrzehnte nach Ottillingers Heimkehr konnte Karner die Verhandlungsprotokolle der Russen einsehen. „Eine kleine Karteikarte, handgeschrieben, im Erdgeschoß des ehemaligen Sonderarchivs des Ministerrates der UdSSR im Nordwesten der Stadt, führte mich auf ihre Spur“, erzählt der Zeitgeschichtler. „Das Archiv war geheim, in keinem Stadtplan eingezeichnet, es gab keine Hausnummer an dem riesigen Gebäude.“ Im Archiv lagerten die Karteikarten von über vier Millionen Kriegsgefangenen und Internierten aus über dreißig Ländern, geordnet nach russischem phonetischem Alphabet: von Deutschen, Polen, Amerikanern, Franzosen, Briten, Italienern, Ungarn und auch Österreichern.

Unter ihnen also Margarethe Ottillinger, die in den russischen Dokumenten als „Margarita“ geführt wird. Die wichtigsten Informationen: Personaldaten, Datum und Grund ihrer Festnahme und Verurteilung („amerikanischer Spion“ und „Fluchthilfe“), die Haftstrafe von 25 Jahren und das Ende der Haft im Gulag 1973 sowie die vorzeitige Repatriierung 1955 nach Österreich.

Aber die wichtigste Information war die Nummer des Personalaktes. So konnte Karner im Depot des Archivs unter den Millionen Personalakten das Gesuchte finden.

Im Herbst 1992 entstand aus dem russischen MGB-Personalakt und zahlreichen Gesprächen mit Margarethe Ottillinger – sie war inzwischen Vorstandsmitglied in der ÖMV – bei Leykam das Buch „Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottilinger“. Karner: „Nie werde ich vergessen, wie Frau Doktor Ottillinger in den letzten Monaten ihres Lebens jede einzelne Seite der oft recht dürren, bürokratischen russischen Dokumente studierte und ihre Erinnerungen zu den Einträgen mitteilte. Es waren ihre letzten Äußerungen. Knapp vor ihrem Tod am 30. November 1992 konnte sie noch das erschienene Buch in Empfang nehmen.“

Die Lebensgeschichte Ottillingers, die zum Dank für ihre Heimkehr die Wotruba-Kirche in Wien-Mauer finanzierte und Klosterschwester wurde, ist von Regisseur Klaus T. Steindl und Produzent Dieter Pochlatko verfilmt worden, mit Ursula Strauss in der Hauptrolle, fachlich beraten von Stefan Karner.

Die TV-Doku „Spiel mit dem Feuer“ wird am Internationalen Frauentag gezeigt (8. März, Universum-History, 21.05 Uhr). Das Buch dazu wird am 2. März präsentiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)

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