Als ein paar Forscher mitten im Weltkrieg Revolution machten

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Vor 75 Jahren wird der erste Mensch mit Penicillin behandelt. Es ist die Geburtsstunde der modernen Antibiotika, die bis heute Millionen Leben retten. An der Entdeckung des "Wundermittels" hat auch der Zufall kräftig mitgewirkt.

Am Himmel tobt der Krieg. Seit Monaten überzieht Hitler-Deutschland England mit seinen Luftangriffen, „the Blitz“. Auf einer Krankenhausstation im englischen Oxford liegt in diesen Februartagen 1941 Albert Alexander. Es ist kein schöner Anblick. Der Polizist hat sich eine Schnittwunde im Gesicht zugezogen– durch eine Rosendorne oder während eines Bombenangriffs in Southampton, da streitet sich die Wissenschaft bis heute. Jedenfalls hat sich die Wunde mit Bakterien infiziert. Eiterbeulen überziehen Alexanders Gesicht. Ein Auge müssen sie ihm entfernen. Bald ist auch die Lunge von den Bakterien befallen, das Blut vergiftet. „Er hat wahnsinnige Schmerzen“, notiert der behandelnde Arzt.

Nun suchen die Wissenschaftler Howard Walter Florey und Ernst Boris Chain genau so einen Todgeweihten für ihre Penicillin-Versuche am Menschen. An Mäusen, Ratten, Katzen haben sie ihr Mittel schon getestet. 100 Milliliter lassen sie Albert am 12. Februar 1941 spritzen, dann noch einmal 300 Milliliter alle drei Stunden. Praktisch über Nacht geht das Fieber zurück. Der Patient hat wieder Appetit. Die Abszesse sondern weniger Eiter ab. Das „Wundermittel“ ist in der Welt, die medizinische Revolution vollbracht. Ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern um Florey und Chain weiß nun, dass das Ende der Hilflosigkeit gegen Geißeln der Menschheit wie Lungenentzündung, Diphtherie und Scharlach naht, dass eine kleine infizierte Wunde – ob durch eine Rosendorne oder einen Schnitt mit dem Rasiermesser – kaum noch den wahrscheinlichen Tod bedeuten wird.

Doch die Geschichte geht bisweilen grausam mit ihren Wegbereitern um. Zwar erhalten Florey und Chain gemeinsam mit Alexander Fleming 1945 den Medizinnobelpreis. Der Weltruhm fällt aber allein diesem Fleming zu. Bis heute ist die Geburtsstunde des modernen Antibiotikums nur mit dem Namen des Schotten verbunden.

Was Infektionen anrichten, sieht Fleming, Sohn eines Schafzüchters, sicher während des Sanitätsdienst im Ersten Weltkrieg an der französischen Front zur Genüge: Soldaten, die im Fieberwahn fantasieren, denen wegen kleiner, aber infizierter Wunden die Beine amputiert werden müssen. Es gibt Schätzungen, wonach die Hälfte der Soldaten im Ersten Weltkrieg nicht direkt durch Bomben oder Schussverletzungen sterben, sondern an den Folgen von Wundinfektionen.


Der Zufall.
Mit all diesen Eindrücken kehrt der zurückhaltende, hagere Bakteriologe Fleming in sein Labor im Londoner St.-Mary's-Krankenhaus zurück – und macht einige Entdeckungen. Doch erst im September 1928 greift der Zufall entscheidend ein. Wie so oft in der Geschichte der Erfindungen. Isaac Newton fiel der Apfel auf den Kopf und stieß so dessen Gedankengänge über die Schwerkraft an. Viagra sollte eigentlich Herzerkrankungen kurieren. Schon Friedrich Nietzsche formulierte: „Das Wesentliche an jeder Erfindung tut der Zufall, aber den meisten Menschen begegnet dieser Zufall nicht.“ Fleming begegnet er. Am 28. September 1928.

Die von Fleming selbst verbreitete Anekdote geht in etwa so: Der Schotte kehrt nach wochenlangem Urlaub in sein Labor zurück. Auf seinem Tisch stehen Petrischalen, in denen sich Staphylokokken-Bakterien ausbreiten sollen. „That's funny“, sagt er zu einem Kollegen. Ein grünlicher Schimmelpilz hat eine der Bakterienkulturen befallen. Der Schotte hatte es mit der Sterilität im Labor nie sehr streng genommen. Nun entsorgt Fleming die verschimmelte Bakterienkultur aber nicht sofort, sondern wirft einen zweiten, entscheidenden Blick darauf. Dabei bemerkt er, dass sich in der Nähe des Schimmelpilzes keine Bakterien ausgebreitet haben. Dieser Pinselschimmel (Penicillium) musste also etwas absondern, das Bakterien tötet (oder genauer deren Zellwände zerstört und Wachstum hemmt, wie wir heute wissen). Fleming stellt nun fest, dass diese Substanz, die er später Penicillin nennen wird, auch anderen Bakterien zu schaffen macht.

Nun wurden schon im Alten Ägypten Breiumschläge aus verschimmeltem Brot zur Behandlung von Wunden eingesetzt. Aber freilich ohne die Wirkung zu verstehen, auf die nun Fleming gestoßen war. Doch kaum jemand nimmt Notiz vom Durchbruch des Schotten. Ihn selbst plagen Zweifel, ob Penicillin jemals zur Krankenbehandlung eingesetzt werden kann. Fleming fehlen die Mittel – und es liegt wohl auch nicht in seiner Natur, den nächsten Schritt zu setzen. „Er war jemand, der an einer bestimmten Stelle über einen Goldklumpen stolpert, ihn ein paar Freunden zeigt und sich dann etwas anderem zuwendet“, schreibt Biograf Gwyn Macfarlane. „Und Florey war der Typ Mensch, der an dieselbe Stelle zurückgeht und dort eine Goldmine errichtet.“ Ein Jahrzehnt vergeht, ehe Florey, ein Australier, und der aus Hitler-Deutschland geflüchtete Jude Chain die Erkenntnisse Flemings aufgreifen. Es gelingt ihnen, reines Penicillin zu gewinnen, erfolgreich anzuwenden – und die Aufmerksamkeit der USA zu wecken. Schon 1943 liegt die Penicillin-Herstellung auf der Prioritätenliste des US-Kriegsministeriums auf Platz zwei, ironischerweise hinter der Entwicklung der Atombombe. Als die US-Soldaten in der Normandie landen, haben sie bereits ausreichend Arznei im Gepäck. „Thanks to Penicillin ... He Will Come Home“, steht auf einem Plakat des Herstellers Schenley aus 1944, das die Behandlung eines Soldaten zeigt.

Nach dem Krieg setzt das Antibiotikum zum Siegeszug in der Zivilgesellschaft an – auch unter Mithilfe zweier Tiroler Chemiker, Ernst Brandl und Hans Margreiter, die das erste Penicillin entwickeln, das auch in Tablettenform eingenommen werden kann. Zwischenzeitlich gedeiht ein regelrechter Schwarzmarkthandel mit Antibiotika, wie ihn „Der Dritte Mann“ zum Thema hat. Es geht nun Schlag auf Schlag, neben Penicillin wird eineReihe weiterer Antibiotika aus Pilzen etc. gewonnen.


Multiresistente Keime.
Doch die Euphorie um das „Wundermittel“ verstellt den Blick auf die Gefahren, die seine falsche Verwendung bringt. „Die Selbstmedikation wird kommen. Und sie wird zu Missbrauch führen“, warnte Fleming schon 1945. „Die größte Gefahr besteht dabei darin, dass durch Unterdosierung die Infektion nicht beseitigt wird, sondern die Bakterien Resistenzen entwickeln.“ Wenn also „gedankenlose Personen mit Penicillin spielen“, so Fleming, „dann tragen sie am Ende die moralische Verantwortung für den Tod jener, die sich mit gegen Penicillin resistentenMikroorganismen infizieren.“ Es sind prophetische Worte. Denn der Mensch hält nicht Maß. Der massenhafte Antibiotika-Gebrauch in der Viehzucht, aber auch durch Ärzte und Patienten treibt die Bildung immer neuer Resistenzen voran. Im ewigen Wettstreit zwischen menschlichem Erfindergeist und der Lernfähigkeit der Bakterien lief es zuletzt nicht gut für die Menschen. Die Gefahr durch multiresistente Keime steigt rasant, wie die Weltgesundheitsorganisation warnt.
Dabei hält schon das Schicksal des armen Polizisten Alexander eine Mahnung bereit, die bis heute von Ärzten an ihre Patienten weitergegeben wird: Die Antibiotika-Therapie ist nicht vorzeitig abzubrechen! Nachdem sich Alexanders Symptome gebessert haben, geht Florey und Chain das Penicillin aus. Die Krankheit kehrt zurück. Am 14. März 1941 stirbt der Polizist. Fast auf den Tag genau ein Jahr später rettet das Penicillin dem ersten Menschen, Anne Miller, das Leben. Sie stirbt 1999, im stolzen Alter von 90 Jahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2016)

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