Geboren auf dem Foltertisch

Opfer der argentinischen Militärjunta
Opfer der argentinischen Militärjunta (c) imago
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Vor 40 Jahren putschten sich Militärs in Argentinien an die Macht. Fortan zwangen sie Schwangere in Lagern zu gebären, um sie dann zu töten. Den Babys gaben sie eine falsche Identität und regimetreue Eltern. Bis heute kennen nur wenige die Wahrheit.

Marta Leiro und ihr Ehemann Carlos de Luccia, ein Kapitänleutnant und Mitglied des Marine-Geheimdienstes, halten mit ihrem Auto an einem Parkplatz am Stadtrand von Buenos Aires. Es regnet. Hinter ihnen bleibt ein zweiter Wagen stehen. Ein Mann steigt aus, eilt auf sie zu. Marta kurbelt ihr Fenster hinab. Kurz darauf hat sie ein Bündel auf dem Schoß, schlägt das nasse Zeitungspapier zur Seite: Darin eingewickelt liegt ein Baby, das noch voller Blut ist.

In dieser Nacht des Jahres 1977 wurde Carlos geboren und seinen „Aufziehern“ übergeben. Erfahren wird er von seiner Zwangsadoption erst viel später. Ein Schicksal, das ihn mit schätzungsweise 500 weiteren Kindern verbindet, die in den Jahren der argentinischen Diktatur von 1976 bis 1983 geraubt wurden – und meist nicht wissen, dass ihre Familien nicht ihre Familien sind. Denn das Regime ließ Schwangere entführen, foltern und unter widrigen Umständen gebären, um sie dann zu ermorden. Den Babys wurden gefälschte Geburtsurkunden ausgestellt und neue, mit dem Regime sympathisierende Eltern zugeteilt. Nur 119 erfuhren bis heute von ihrer wahren Identität, acht von ihnen hat die Journalistin Analía Argento getroffen und ihre Erlebnisse in dem Buch „Paula, du bist Laura“ dokumentiert.

Eines dieser Kinder ist Carlos. Seine Mutter Yolanda Casco und seinen Vater Julio D’Elia hat er nie kennengelernt. Sie wurde wenige Minuten nach der Entbindung im Folterlager Pozo de Banfield betäubt und ermordet. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Beide waren sie Gegner des Regimes der argentinischen Militärjunta, die sich am 24. März 1976 an die Macht geputscht hatte und seither einen „guerra sucia“, einen „schmutzigen Krieg“, gegen alles Linke, Eingewanderte oder Jüdische führte. Tausende zerrten die Soldaten aus ihren Häusern, erschossen sie auf offener Straße, ließen sie in einem der rund 340 Lager verschwinden, quälen oder aus Flugzeugen ins Meer werfen.

„Wir werden 50.000 Menschen töten müssen. 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten und wir werden 5000 Fehler machen“, hatte General Luciano Benjamín Menéndez kurz nach der Machtübernahme gesagt. Tatsächlich fielen dem Terror bis zum Ende der Junta im Jahre 1983 etwa 30.000 Menschen zum Opfer.

Geraubt, gefälscht, genetisch getestet

Carlos ist 18 Jahre alt, als er erfährt, dass das Paar, das ihn großgezogen hat, nicht seine leiblichen Eltern sind. Ein Verfahren vor Gericht, das die „Großmütter der Plaza de Mayo“ erwirkt haben – Frauen, die seit 1977 jeden Donnerstag für die Aufklärung der Schicksale der „Desaparecidos“, der Verschwundenen, demonstrieren und deren Angehörigen bei der Suche nach den vermissten Enkeln, Cousins und Brüdern helfen – und ein DNA-Test bringen Klarheit. Carlos akzeptiert sein Schicksal, lässt sich auf seine Verwandten ein, während seinen „Aufziehern“ der Prozess gemacht wird. Der Vorwurf: die Aneignung und Fälschung der Identität eines Minderjährigen.

Ähnlich ergeht es Mercedes. Sie erhält kurz nach ihrem 21. Geburtstag eine Vorladung vor Gericht. Die „Großmütter der Plaza de Mayo“ haben Zweifel an ihrer Identität, heißt es darin. Nach genetischen Tests erfährt sie, dass sie am 25. März und nicht am 13. Juni 1978 geboren wurde. Der Oberstleutnant des 1. Armeekorps hatte eine falsche Bescheinigung ausgestellt, die ihr „zweites Leben“ ermöglichen sollte. Ihr erstes hatte sie acht Monate lang mit Gertrudis Marta Hlaczik und José Poblete in der Kleinstadt Guernica geführt. Ihr Vater war ein Mitglied der peronistischen Bewegung „Montoneros“ und in der Nacht des 27. Novembers 1978 deswegen entführt worden. Ihre Mutter hatte man, gemeinsam mit ihr, am Morgen des Folgetages abgeholt und in das Lager El Olimpo überstellt.

Einer der dort tätigen Oberstleutnants war der kinderlose Caferino Landa, jener Mann, den Claudia jahrelang für ihren Vater hielt. Gesucht wurde das Mädchen seitdem von ihren Großmüttern, Buscarita Roa und Ana Hlaczik. Sie gingen zur Polizei, erstatteten Anzeige, sprachen mit dem Bischof des Militärvikars, wurden beim Innenministerium vorstellig. Erst nach zwei Jahrzehnten sollten die beiden Frauen Erfolg haben – dank Abgleichen mit genetischen Daten, die seit den 1980ern in einer nationalen Datenbank gesammelt werden, und der „Großmütter der Plaza de Mayo“.

„Tiefe, offene Wunde in der argentinischen Gesellschaft“

Von beidem profitierte auch Enriqueta Estela Barnes de Carlotto. Die 85-Jährige ist die Präsidentin der „Großmütter“ und erhielt für ihren Einsatz neben Ehrenzeichen auch 13 Doktortitel honoris causa – und ein Familienmitglied. Am 5. August 2014 wurde Ignacio Hurban zum 114. wiedergefundenen Enkel der Nichtregierungsorganisation. Der 36-jährige Musiker hatte sich auf eigene Initiative hin einem DNA-Test unterzogen, mit ihr Kontakt aufgenommen und seinen Geburtsnamen, Guido Montoya Carlotto, angenommen. „Ich danke euch allen, Gott und dem Leben, denn ich wollte ihn noch einmal in die Arme nehmen, bevor ich sterbe“, sagte De Carlotto vor zwei Jahren.

Nun sucht sie für andere weiter. Denn, so fasst es ein Bericht der „Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen“ zusammen: „Die verschwundenen Kinder stellen jetzt und noch für lange Zeit eine tiefe und offene Wunde in der argentinischen Gesellschaft dar.“

Militärdiktatur in Argentinien

In der Mitte der 1970er Jahre befand sich Argentinien in einer wirtschaftlichen Rezession. Daneben terrorisierten linke Guerillatruppen und rechte Paramilitärs die Bevölkerung. Am 24. März 1976 wurde die demokratische Regierung unter Präsidentin María Estela Martínez de Perón schließlich gestürzt. Eine Militärjunta stellte sich an die Spitze des Landes, bestehend aus den drei Oberbefehlshabern von Heer, Luftwaffe und Marine. Regimetreue gingen fortan brutal gegen Oppositionelle, Intellektuelle, Einwanderer, Beeinträchtige, Homosexuelle, Juden und Muslime vor. Sie wurden in den rund 340 Folterlagern gequält und ermordet. Schätzungen gehen von etwa 30.000 Opfern des Staatsterrors aus. Auch Schwangere „verschwanden“, ihre Kinder wurden von Juntatreuen zwangsadoptiert. Bis heute werden diese von der NGO „Großmütter der Plaza de Mayo“ gesucht. Bislang erfuhren 119 Personen von ihrer wahren Identität.

Erst im Oktober 1983 fanden die ersten freien Wahlen statt, Präsident wurde Raúl Alfonsín, der die Aufarbeitung der Verbrechen in Angriff nahm. Doch seine Bemühungen gerieten wegen massiven Drucks seitens des Militärs ins Stocken. Erst der frühere Präsident Néstor Kirchner nahm sie wieder auf. Der erste Junta-Chef, Jorge Rafael Videla, wurde 2012 verurteilt, zahlreiche ehemalige Offiziere verbüßen mittlerweile lebenslange Haftstrafen

Buchhinweis

„Paula, du bist Laura! - Geraubte Kinder in Argentinien“ wurde von der argentinischen Journalistin Analia Argento verfasst. Es erschien im Jahr 2010 im Verlag Ch. Links und hat 244 Seiten. Darin beschrieben wird das Schicksal von acht Erwachsenen, deren Eltern der Militärjunta zum Opfer gefallen sind und die als Baby von regimetreuen Familien zwangsadoptiert wurden.

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Am 24. März 1976 übernahmen die Generäle unter ihrem Putschführer, Jorge Videla, die Macht in Buenos Aires. Videla starb 2013 im Gefängnis.
Zeitreise

Junta: Der fatale "Krieg gegen die Subversion"

Keine Militärdiktatur in Südamerika war so brutal wie die argentinische Junta, die vor 40 Jahren die Macht übernahm. "Feinde" wie linke Gruppen, aber auch Homosexuelle, Muslime, Juden und Einwanderer wurden verfolgt. Auch wenn das Land die Verantwortlichen juristisch verfolgte, konnten die Militärs lange unbehelligt leben.

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