Gefürchtet, geliebt, verehrt: Otto Schulmeister

Oft und gern waren die vier Freunde auf Reisen: „Presse“-Kulturlady Ilse Leitenberger, Moldens Geschäftsführer Gerd Bacher, „Presse“-Chef Otto Schulmeister und Verleger Fritz Molden.
Oft und gern waren die vier Freunde auf Reisen: „Presse“-Kulturlady Ilse Leitenberger, Moldens Geschäftsführer Gerd Bacher, „Presse“-Chef Otto Schulmeister und Verleger Fritz Molden.„Presse“-Archiv
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Am 1. April wäre der langjährige Chefredakteur der „Presse“ hundert Jahre alt geworden. Er liebte es, seine Leser mit Klugheit zu verwirren, seine Kontrahenten auch.

Was lesen Sie gerade daheim?“ Eine hinterlistige Frage, auf die man als „Presse“-Anfänger aber vorbereitet sein musste, wurde man ins Allerheiligste zu Chefredakteur Otto Schulmeister befohlen. „Was Klassisches ist immer gut“, meinte der gemütliche Chef des Lokalressorts, „Marc Aurel halt“. Thomas Chorherr hatte als rechte und linke Hand des Chefs diese ideologische Prüfung längst hinter sich. Pech hingegen für jenen schleimigen Schmeichler, der die Antwort gab: „Ihr jüngstes Buch, Herr Doktor!“ – „Und? Was haben Sie zu sagen? Ehrlich!“ – „Also, ehrlich . . .“ – „Keine Scheu, mein Lieber!“ – „Sie stellen viele Fragen, aber wo sind die Antworten?“ – „Vatermörder, hinaus mit Ihnen!“ Über den langen Gang im 14. Stockwerk brüllte er dem Unglückseligen noch sein vernichtendstes Urteil nach: „Sie Hedonist!!!“ Außenstehende hätten meinen können, das ganze Hochhaus habe leicht geschwankt. Dabei war es nur einer der vielen kabarettreifen Auftritte des gefürchteten, geliebten, verehrten „Presse“-Chefredakteurs. Gestern, Freitag, wäre er 100 Jahre alt geworden.

Ein Bildungsbürger, der den Weltenlauf mit dunklen Sentenzen zu deuten wusste. Einer, der es liebte, seine Leser mit Klugheit zu verwirren. Als einmal sein Samstag-Leitartikel im Bleisatz auf dem Boden der Setzerei landete, befahl er, die Absätze möglichst rasch irgendwie zusammenzustoppeln: „Es versteht sowieso niemand.“ Und einer, der auch bereit war, abweichende Meinungen hinzunehmen: Als Anneliese Rohrer sich weigerte, eine Glosse gegen die Fristenlösung zu schreiben, quittierte er das mit einem knappen: „Na, dann halt nicht.“ Rohrer stand damals am Beginn ihrer journalistischen Karriere. Konsequenz ihrer Weigerung: Keine.

Wohnhaft dort, wo ein Bildungsbürger zu wohnen hat: Döblinger Hauptstraße, Ecke Hofzeile. Von hier waren es nur fünfzehn Minuten durch den Wertheimsteinpark hinunter zum Pressehaus an der Heiligenstädter Lände. Unsere Heimat für viele Jahre.

„Herr Doktor, Sie sind zu spät dran“

Vor einer definitiven Anstellung hatte Schulmeister für die Jungen den Gang durch die Hölle der Lokalredaktion vorgesehen. Wer hier die Nerven wegwarf, hatte in diesem Tollhaus nichts zu suchen. Der Zuchtmeister hieß Erich Grolig. Aber da gab's auch die kluge Ilse Leitenberger, die grazile fromme Pia Maria Plechl, den gemütlich wirkenden Thomas Chorherr, dessen Zornesausbrüche aber legendär waren. Der Sportchef Gerhard Zimmer, dessen stählernes Typometer als Herrschaftszeichen den Chef vom Dienst schmückte: Nahte das gefährlich wippende Schlaginstrument, dann beugten sich die Sklaven tiefer über die Schreibgeräte, denn in fünf Minuten war Abgabezeit für das Manuskript (einen Durchschlag nicht vergessen!). Der Chef vom Dienst war außer Chorherr der Einzige, der zumindest ein Wörtchen bei Schulmeister mitzureden hatte. Nämlich: „Herr Doktor, Sie sind zu spät dran.“ Oder „Herr Doktor, jetzt samma aber wirklich um a Stund' zu spät.“ Seine ersprießliche Tätigkeit, die ja das Erscheinen der Zeitung gewährleisten sollte, endete an einem 23. Dezember ziemlich abrupt. Schulmeister diktierte, viel zu spät; änderte den Bürstenabzug, viel zu spät; erschien noch im Mantel in der Setzerei, zückte die Füllfeder und wollte nochmals korrigieren. Fassungslos schrie der Chef vom Dienst seine Qual hinaus: „Herr Doktor, alles im letzten Augenblick! Dass morgen Weihnachten ist, war seit einem Jahr bekannt!“ In diesem Moment bewies „Otto der Große“, dass er auch so laut brüllen konnte. Der Rauswurf gestaltete sich spektakulär, der Mann machte Karriere beim ORF.

So groß sein Drang nach Selbstdarstellung auch war (Gustav Peichl und Gerd Bacher waren nicht zufällig seine engen Freunde), so rührend war er um guten Nachwuchs in der Redaktion besorgt. Als er im Gespräch mit den Innenpolitikern merkte, dass ihnen der Name Joseph Buttinger wenig bis nichts sagte, lagen anderntags fünf Bücher mit dessen Erinnerungen auf den Schreibtischen. Auch Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ wurde abgeprüft. Mittwochabend war Pflichttermin für jeden Nachwuchsredakteur. Schulmeister, der Gott und die Welt kannte, präsentierte wöchentlich einen Stargast zur Diskussion: Politiker, Medienleute, Ärzte, Wissenschaftler. „Presse“-Korrespondenten auf Heimaturlaub wurden zum Referat beordert.

Geraucht wurde nicht nur am Mittwochabend. Geraucht wurde immer und überall, besonders während der Redaktionskonferenz, die in den 1970er-Jahren erst um halb drei Uhr stattfand. Bis zu seinem Sechziger paffte Schulmeister. Filterlos natürlich. Das gehörte einfach dazu. Später pries er den Jüngeren die Segnungen der Enthaltsamkeit.

Ob als Chefredakteur oder später als Herausgeber bis 1989: „Die Presse“, das waren in der Öffentlichkeit Otto Schulmeister und seine Redaktion. Geschäftsführer kamen und gingen, er betrachtete sie als Gehilfen, die den Ruhm seiner schreibenden Stars zu mehren hatten. Viele Neulinge wussten jahrelang nicht, wer mit der Herausgabe der Zeitung betraut war. Daneben agierten als geduldete Notwendigkeit eine Verwaltung, die Anzeigenadministration, Buchhaltung und die Kassa. Nach Dienstreisen gab es dort gegen Beleg Bargeld. Ein höchst beliebtes Büro im 15. Stock.

Er hat Diskussionen angestoßen

Ab 1953 hat er dieser Zeitung gedient. Im Alter milder geworden, hat es ihn dennoch bis zuletzt gejuckt, durch Provokation seiner Leute Diskussionen vom Zaun zu brechen. Da waren die Zeiten der Chefredakteur-Streitgespräche im ORF längst vorbei, wahre Straßenfeger zum Gaudium des Publikums. Franz Kreuzer, einst Chef der „Arbeiter-Zeitung“, erzählte, dass ihm noch Jahre danach Leute auf der Straße Tipps geben wollten, wie er „den Schulmeister“ in den Griff bekommen könne.

Am 10. August 2001 ist Otto Schulmeister in Wien gestorben. Der Abschied auf dem Neustifter Friedhof war eines ganz Großen würdig, der Österreichs Nachkriegsgeschichte nachhaltig mitgestaltet hat.

ZUR PERSON

Nächsten Samstag: Theodor Körner wird in der Stichwahl gegen Heinrich Gleißner 1951 Bundespräsident.Otto Schulmeister (*1. 4. 1916–10. 8. 2001) studierte Staatswissenschaft und Sozialökonomie. Nach Kriegsdienst und -gefangenschaft begann er 1946 als Redakteur bei der „Presse“. Es folgte der Aufstieg zum stellvertretenden Chefredakteur (1953), Chefredakteur (1961) und Herausgeber (1976–1989). Daneben arbeitete er u. a. für „Wort und Wahrheit“ und die „Briefe an die Österreicher“.

Aktuelle Dokumentation. Die ORF-Journalisten Gerhard Jelinek und Birgit Mosser-Schuöcker haben eine Doku zum 100. Geburtstag von Otto Schulmeister produziert, in der unter anderem seine Tochter Therese Schulmeister, die Künstlerin und ehemalige Otto-Mühl-Kommunardin, zu Wort kommt. ORF III zeigt die Doku am kommenden Samstag, den 9. April um 21.55 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2016)

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