Aquileia - Europas vergessene Drehscheibe der Sprachen und Völker

Was vom Forum Romanum in Aquileia übrig ist. Mussolini ließ die Säulen unkorrekt aufrichten.
Was vom Forum Romanum in Aquileia übrig ist. Mussolini ließ die Säulen unkorrekt aufrichten.(c) Rainer Hackenberg / Picture Alli (Rainer Hackenberg)
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Im alten Rom war Aquileia im Norden der Adria ein Europa im Kleinen. Alle denkbaren Völker kamen dort zusammen. Eine offene Kreuzung war Reichsgrenze! Dann kam Attila.

Es waren böse Zeiten, Barbaren überall. Die Goten hatten Rom geplündert, die Vandalen Nordafrika überrannt. Das Römische Reich, das Reich, die Zivilisation schlechthin, ging in Ausländerstürmen unter, und Europa war in Angst, damals schon.

Dann kam auch noch Attila, der Hunne, mit seinem Reiterheer. An der oberen Adria machte er Aquileia platt. Wortwörtlich. Ein politischer Symbolakt. Denn Aquileia, heute fast vergessenes Provinznest, war ein Welthandelszentrum. Davon hat Attila nur Fundamentreste und Bodenmosaike übrig gelassen, eine Metropole mit mindestens 50.000 Einwohnern reduziert auf Länge mal Breite, auf zwei Dimensionen. Die Jahreszahl dieses Weltuntergangs – 452 – steht im Kollektivgedächtnis dort eingebrannt bis heute. Jetzt müsste nur auf das Gedächtnis Verlass sein. Und auf die Erzählungen, die es formen.

Aquileias Ende jedenfalls war die Ironie einer voran- und vorübergehenden Geschichte. Denn die Stadt versagte ausgerechnet in der Rolle, für die Rom sie sechseinhalb Jahrhunderte zuvor in die Sümpfe hinter der Lagune gesetzt hatte: als Bollwerk, als Grenzwächterin. Nur, dass die Grenze damals anders definiert, anders markiert, anders gehalten wurde: nicht mit Zäunen, mit Hadrians- und sonstigen Wällen, sondern mit einer offenen Kreuzung von Land- und Wasserwegen, mit Handel, Industrie und Kunst. So wurde die Grenzstadt Aquileia zum Mittelpunkt in einem selbst geschaffenen, früheuropäischen Kosmos, und in immer neuen Wellen der Selbsterfindung.

Dorf über Ruinen.
In dem gesichtslosen Großdorf, das heute über den Ruinen steht und das mit gut 3000 Einwohnern exakt auf die Dimension von Aquileias Erstbesiedelung im Jahr 181 vor Christus geschrumpft ist, hat der Geist von einst keine Heimat mehr. Eine Bauern- und Schlafsiedlung ist das, die vor der Wirtschaftskrise den Tourismus nicht zu brauchen glaubte, heute aber schon froh wäre, wenn die jährlich bis zu 600.000 Besucher der Mosaiken wenigstens einen halben Tag blieben; länger nicht, denn dafür gibt es keine Strukturen. Wenigstens arbeitet jetzt, nach Vernachlässigung und Kompetenzwirrwarr, eine Stiftung aus Staat, Stadt und Kirche daran, Aquileias Geschichte greifbar zu machen, Erschließungswege – wortwörtlich – zu bahnen, ein Leben neu zu erzählen. Wenigstens aus den verbliebenen zwei Dimensionen. Ein „Pompeji des Nordens“ kann Aquileia nie werden. Der Mensch richtete schlimmere Verwüstungen an als die rohe Gewalt der Natur.

Bernstein.
Damals. Damals gab's kein Venedig, kein Triest. An der oberen Adria, leicht erreichbar über den Fluss Natissa, war Aquileia der einzige natürliche Hafen. Er wurde schnell zu einem kontinentalen Güterverteilzentrum ersten Ranges. Das römische Mittelmeer war ein zusammenhängender, einheitlicher Raum, Aquileias Bezugshafen am anderen Ufer war Ägyptens Alexandria, und die gut 2000 Amphoren im Museum zeigen, wie eng für Öl, Getreide, Wein, Keramik und die Fischsoße Garum die Handelsbeziehungen zur Provinz Africa waren, dem heutigen Tunesien. Von Norden, aus „barbarischem“ Gebiet, kamen auf dem Landweg Bernstein, Pelze, Sklaven, Salz. In West-Ost-Richtung lief der Austausch zwischen Italien und dem Balkan.

Doch Aquileia verteilte nicht nur. Sein Museum, in das sich heute weniger als ein Zehntel der Touristen verirrt, beherbergt die größte bekannte Sammlung von Gemmen und Kameen. Das heißt: In Aquileia existierte eine gewaltige Industrie der Edelsteinbearbeitung, die zusammen mit der Schmuckfabrikation rund um Bernstein und dem Hafen als solchem eine immense Kaufkraft in die Stadt brachte.

Das, was von den Römervillen übrig geblieben ist, spiegelt die jeweiligen modischen Trends der Hauptstadt wider. Und man weiß, dass in der Welthandelsstadt Aquileia alle nur denkbaren Sprachen und Völkerschaften zusammenlebten. Friedlich, zu wechselseitigem Nutzen. Denn von Konflikten hätten die Geschichtsschreiber schon berichtet. Unter Augustus (31 vor Christus bis 14. n. Chr.) hatte Aquileia sogar seine Stadtmauern verfallen lassen; man dachte, im kaiserlich garantierten ewigen Frieden würde sie keiner mehr brauchen. Doch dann kam Attila.

Zum Glück hatte Aquileia da längst eine Basis gelegt, die der Stadt auf lange Sicht den Charakter und ihre Wiederauferstehung garantierte. Denn ein Weltuntergang ist ja nicht das Ende, sondern der Beginn einer Verwandlung. Und wie das Römische Reich ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation überging – das immerhin bis 1806 hielt –, so sprang in Aquileia die Kirche als Kulturträger ein. Die christliche Gemeinde muss stark gewesen sein, denn praktisch im selben Augenblick, in dem Kaiser Konstantin 313 die dreihundertjährige Verfolgungszeit beendete, errichtete sie unter dem Kaufmannssohn und Bischof Theodor gleich zwei nebeneinanderliegende Basiliken plus Taufkapelle – mit dem touristischen Hauptziel von heute: den größten Bodenmosaiken der westlichen Welt.

Auch in ihnen – typisch Aquileia – zeigen sich Grenze und Austausch in innigster Vermischung. Die Kirche hatte in den konstantinischen, ihren ersten „staatsoffiziellen“ Jahren noch kein Bildprogramm. Sie hatte allenfalls Katakomben mit kleinen, künstlerisch eher unbeholfenen Malereien geschmückt. Mit welchen Darstellungen sollte sie nun ganze Hallen bespielen?

Die Basilika von Aquileia stellt das Ende der antiken Kunst dar, und aus ihr heraus kann man der christlichen hier beim Werden zusehen. Ganz unbekümmert griffen die Kirchenkünstler auf das beliebte weltliche Programm der römischen Villen zurück. So durchdringen einander in der Geschichte des Propheten Jonas die biblische Erzählung und heidnische Puttenszenen, und alles spielt sich auf einem fröhlichen Meer voller Fische, Kalmare und Quallen ab – so wie es reiche Römer, nach afrikanischer Mode, in ihren Wohnzimmern auch hatten. Die Führer in der Basilika von Aquileia, voll Fantasie und einander fröhlich widersprechend, dichten heute in das alles irgendwelche geheimnisvollen, vergessenen Symboliken hinein.

Je stärker mit dem Ende der Antike auch das kirchliche Rom verfiel, umso kräftiger wuchs Aquileia. Gestützt auf die historisch weder beweis- noch widerlegbare Legende, der heilige Evangelist Markus höchstpersönlich habe die Christengemeinde dort begründet, legten sich die Bischöfe von Aquileia Mitte des sechsten Jahrhunderts genauso den Patriarchentitel zu. Schließlich sammelte Aquileia so viele Bistümer um sich, dass der Patriarch über die größte Kirchenprovinz der damaligen Welt herrschte: vom Bodensee über Österreich und Oberitalien bis nach Ungarn. Das war die frühmittelalterliche Neuerfindung Aquileias; am deutlichsten sichtbar ist sie an zwei Punkten. Der eine heißt Venedig. Nach Attila und aus Angst vor weiteren Verwüstungen zogen sich die Bewohner in die unangreifbare Lagune zurück und entwickelten aus altem Aquileia-Geist eine neue, über Jahrhunderte blühende Handelsmetropole, die weder geografische noch politisch-moralische Grenzen akzeptierte. Der zweite Punkt ist der 70 Meter hohe Campanile von Aquileia; er ist für viele seiner Art Modell geworden. Gebaut hat ihn Bischof Poppo, der zu Beginn des 11. Jahrhunderts auch die Basilika neu errichtete und so die Hochzeit des Patriarchats einleitete.

Der Kärntner. Poppo hieß mit bürgerlichem Namen Wolfgang von Treffen. Einheimischer also war Poppo nicht, wenn das Kriterium in Aquileia überhaupt jemals eine Rolle gespielt haben sollte. Er stammte aus Kärnten und verkörperte als Glied einer Kette von bayerischen, schwäbischen und Südtiroler Patriarchen eine neue Wandlung Aquileias: die „germanische“. Die hatte mit dem Einfall der Langobarden 568 begonnen (noch so ein Weltuntergang) und setzte sich mit der politischen, religiösen, ethnischen und künstlerischen Integration dieser Nordlichter fort. Über ein Bündnis mit ihnen erlangten die deutschen Kaiser Zugriff auf die Regionund schickten ihr eigenes Personal.

Um der Sache vorzugreifen: Aquileia verfiel dennoch; die wachsende Stieftochter Venedig riss sich 1420 nicht nur das Territorium unter den Nagel, sondern – wieder einmal unter Berufung auf den Evangelisten Markus – auch den Patriarchentitel. Drei Generationen danach wurde Aquileia habsburgisch, blieb aber zusammen mit dem neuen Hafen Triest das, was es immer war: eine Drehscheibe der Völker.

Bis das Habsburgerreich 1918 zerfiel,lebten in der Region nicht nur Menschen und Kulturen, Sprachen und Religionen aus dem ganzen Mittelmeerraum zusammen, sondern auch aus dem Norden, vom Balkan, von überall. Ganz selbstverständlich, als ein Europa im Kleinen, bis im 19. Jahrhundert der Nationalismus das als „Völkerkerker“ denunzierte Reich untergrub. Es folgten Weltkriege und Mauern.


Attila-Mythos.
Zurück zum Kärntner Poppo, dem Erbauer des unübersehbaren und unübersehbar schiefen Campanileim 11. Jahrhundert: Die Steine, schon erstklassig behauen, nahm er aus dem antiken Amphitheater. Aus den Thermen und anderem antiken Fertigmaterial bediente sich indes reichlich das aufstrebende Venedig. Bis vor 200 Jahren nützten alle, die hier vorbeikamen, die Vergangenheit als Steinbruch. Als vom alten Aquileia nichts mehr zu sehen war, kam der Attila-Mythos auf: Der Barbar habe alles platt gemacht. Aber wie sollte ein für wenige Wochen vorbeieilendes Reiter- und Räuberheer – bei aller Eroberung und symbolischer Zerstörung einiger Zentralgebäude – eine massive Großstadt komplett dem Erdboden gleichgemacht haben?

Mauerstümpfe, Mosaiken sonder Zahl, komplett gepflasterte Straßen: Die Reste des alten Aquileias liegen Archäologen zufolge nur wenige Handbreit unter der Oberfläche. Wenn man wollte und das Geld hätte, könnte man alles ausgraben – und die Monumentalität eines frühen Europas bestaunen, das von „Barbaren“ zerlegt worden ist, von solchen und solchen.

Aquileia wird 181 vor Christus als römische Kolonie gegründet. Bald ist es eine Handelsmetropole.

452 n. Christus: Attila der Hunnenkönig zieht eine Spur der Verwüstung auch durch diese Stadt.

Mitte des 6. Jh.s: Aquileia wird Sitz eines Patriarchen.

568: Die Langobarden fallen ein.

1420:Aquileia fällt Venedig zu, 1451 auch der Patriarchentitel.

1751: Der Papst löst das Patriarchat auf. Es entstehen die
Erzbistümer Udine für das venezianische sowie Görz für das österreichische Friaul.

Aquileia zählt heute gut 3000 Einwohner. Es liegt in der italienischen Provinz Udine im Isonzodelta.

Quelle: Brockhaus Enzyklopädie.

Die Presse/PW

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2016)

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