Gulag-Museum: Der Große Terror im stalinistischen Vaterland

(C) Staatliches Gulag-Museum
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Das Staatliche Gulag-Museum wurde neu gestaltet. 2017 bekommt Moskau ein offizielles Denkmal für die Opfer politischer Repression. Unterstützt wird all das von einem Präsidenten, der den Untergang der Sowjetunion betrauert.

Dieser Ort ist kein Vergleich zum früheren Gulag-Museum, das sich in einem Wohnhaus in einer Straße hinter der Twerskaja befand. Wenn man durch die Zimmer ging, fühlte es sich an, als wäre man bei einem einst Verfolgten zu Hause eingeladen. Die schummrigen Räumlichkeiten des Museums, das 2001 gegründet wurde, waren vollgestopft mit Exponaten, und ältere Damen wachten über die in die Jahre gekommene Ausstellung.

Das neu gestaltete Staatliche Museum für die Geschichte des Gulag, wie es offiziell heißt, spielt in einer anderen Liga. Ein ganzes, großes und nach außen hin gut sichtbares Haus hat der neue Direktor, der 33-jährige Roman Romanow, bekommen. Es enthält eine umfangreiche Ausstellung, eine Bibliothek, eine Cafeteria und einen kleinen Shop, in dem Memoiren ehemaliger Lagerhäftlinge, Notizblocks und Stofftaschen mit dem Logo des Museums angeboten werden. Bei Abendveranstaltungen lesen Literaten, und am dritten Sonntag des Monats ist der Eintritt frei.

Im neuen Museum sind die schummrigen Räume nicht der fehlenden Finanzierung geschuldet, sie sind Teil der Inszenierung. Die Schau beginnt mit dem „Raum der Gefangenschaft“. Im Halbdunkel ein Lagerbett, Original-Gefängnistore, auf dem Boden die Umrisse einer Zelle. Der Plan eines „typischen Lagers für 5000 Menschen“ hängt an der Wand. Ein metallisches Knarzen ist zu hören, „das Auf- und Zusperren von Gefängnistüren im Butyrka-Gefängnis“, erklärt ein Mitarbeiter. Erfahren und erfühlen sollen die Besucher den Schrecken des Gulag, jenes die Sowjetunion umspannenden Systems an Arbeitslagern, das mit der Machtergreifung der Bolschewiken und der Verfolgung von „Klassenfeinden“ seinen Ausgang nahm. Als offizieller Gründungstag gilt der 13. Oktober 1923, als auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer der Prototyp späterer Lager geschaffen wurde.

Zeitzeugen schildern die Torturen

Einen Eindruck von den willkürlichen Verhaftungen geben die Video-Interviews mit Überlebenden, die über die Schau verteilt sind: Witalij Welikow, Zwangsarbeiter in Deutschland, Soldat der Roten Armee, verhaftet 1949 aufgrund einer angeblich Deutschen-freundlichen Aussage, sechs Jahre nach Stalins Tod befreit, 1983 rehabilitiert. In den Vitrinen stehen die persönlichen Gegenstände von Lagerinsassen symbolisch für das Aufbegehren der Individualität, wo sie systematisch negiert wurde: ein Miniatur-Wörterbuch Russisch-Deutsch ist etwa zu sehen. Sein Besitzer Wladimir Bering wurde im Jahr 1937 im Norillag erschossen.

Die Neugestaltung des Museums wurde von Staatspräsident Wladimir Putin unterstützt, jenem Mann, der das Ende der Sowjetunion betrauert. Ein Widerspruch? Nicht im Russland von heute, in dem das Lagersystem, das zur Stalinzeit seinen Höhepunkt erlebte, und die von Stalin propagierte Aufopferung für das Vaterland unkommentiert nebeneinander steht, fast so, als hätte das eine nichts mit dem anderen zu tun.

In einem Regierungsprogramm aus dem Jahr 2015, das als Grundlage einer ganzen Reihe von Erinnerungs-Initiativen gilt, heißt es: „Russland kann nicht im vollständigen Ausmaß ein Rechtsstaat sein und eine führende Rolle in der Weltgesellschaft einnehmen, wenn es nicht das Andenken an die vielen Millionen Bürger verewigt, die Opfer der politischen Repression geworden sind.“ Gedenken ist zur Staatsräson geworden. Ein Denkmal für die Opfer der politischen Verfolgung soll in Moskau im Oktober 2017 eingeweiht werden, finanziert aus Staatsgeldern und Spenden. Ausgewählt wurde aus 336 Einsendungen der Entwurf des Bildhauers Georgij Franguljan, der mit seiner „Wand der Trauer“ – einem begehbaren Bronzewall, der aus den Silhouetten von Menschen besteht – persönliche Anteilnahme ermöglichen will.

Literaten arbeiten sich an Geschichte ab

Auch die zeitgenössische Literatur befasst sich mit dem verlustreichen 20. Jahrhundert: Zuletzt hat der bekannte Autor Jewgenij Wodolaskin mit „Aviator“ die Zeitreise eines Helden durch das 20. Jahrhundert veröffentlicht. Das mit dem als Kreml-nah geltenden Preis „Großes Buch“ (2015) ausgezeichnete Debüt „Sulejcha öffnet die Augen“ von Gusel Jachina handelt von einer Tatarin zur Zeit der Entkulakisierung in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts (2017 erscheint der Roman auf Deutsch im Aufbau-Verlag). Doch ein Autor illustriert wie kein anderer die Integration in das neue regierungsnahe Geschichtsnarrativ: Sachar Prilepin, nationalkonservativer Publizist und noch vor Jahren entschiedener Putin-Gegner, fand sich im Ukraine-Krieg plötzlich auf Kreml-Linie wieder, als er die Sache der Separatisten propagierte. Für seinen Roman „Obitel“ („Das Kloster“) über das Solowezki-Lager gewann er ein Jahr vor Jachina das „Große Buch“.

Im Gulag-Museum ist die Kanonbildung im Dienste der politischen Führung ebenfalls spürbar. Die Schau endet mit einer Videowand, die Putins Verdienste in der Sache zeigt. Doch schwerer wiegen einige inhaltliche Versäumnisse: Der Große Terror wird mit der Metapher der „Sonnenfinsternis“ verklärt – fast so, als wären die Massenverfolgungen von 1937/38 in einem Zustand geistiger Umnachtung erfolgt. Ebenso entsteht der Eindruck, dass es nach Stalins Tod keine politische Verfolgung mehr gab.

Dass ehemalige Häftlinge oft noch jahrzehntelang auf ihre Rehabilitierung warten mussten und im Alltag Anfeindungen ausgesetzt waren, ist in der Schau aus den vielen Bittbriefen ersichtlich, die an das Zentralkomitee der Partei geschickt wurden. Insgesamt fehlt die historische Einordnung des Gulag als zentraler Bestandteil des Sowjetsystems. Zu Beginn der Ausstellung steht geschrieben, dass sich nach der Machtergreifung durch die Bolschewiken ein „Gefühl der Unterdrückung und Angst“ breitmachte. Eine Bemerkung, zu lapidar für die Monstrosität des hier Gezeigten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2016)

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