US-Professor Lilla: "Europäisches Modell unmännlich"

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Symbolbild(c) AP (Amy Sancetta)
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US-Professor Mark Lilla im Interview mit der "Presse" über das Ende des "American Dream", die wachsende gesellschaftliche Kluft in den USA sowie den Einfluss von Fox News und Tea Party auf die Republikaner.

Die Presse: Das „amerikanische Jahrhundert“ ist vorbei. Ist damit auch der „amerikanische Traum“ gestorben?

Mark Lilla: In den letzten 50 Jahren war der „amerikanische Traum“ eher bescheiden und solide. Das Konzept lief darauf hinaus, die High School abzuschließen, einen Job anzunehmen, ein Haus zu kaufen – das war zentraler Bestandteil –, Kinder großzuziehen. Er lebte von der Erwartung, dass es den Kindern einmal besser gehen würde. Dieser Traum ist vorbei.

Woran liegt das?

Dafür gibt es wirtschaftliche und kulturelle Gründe. Zum einen eine Verkettung ökonomischer Faktoren: den Rückgang der herstellenden Industrie, die internationalen Kapitalbewegungen, die Computerisierung, das Internet. Die Hürden in der modernen Wirtschaft sind höher: Es ist mehr erforderlich als nur ein High-School-Abschluss. Intelligenz wird belohnt, Muskelkraft nicht so sehr.

Teilen Sie die These Charles Murrays von der wachsenden Kluft in der US-Gesellschaft: zwischen Arm und Reich, zwischen den Städten und den ländlichen Regionen, zwischen den Küsten und dem US-Herzland?

Das ist mein Punkt. Die ökonomische Entwicklung führte zur Herausbildung einer Klasse und zur kulturellen Spaltung. College-Absolventen heiraten untereinander, sie geben die Privilegien an ihre Kinder weiter. Diejenigen, die am unteren Ende der Gesellschaft stehen, führen ein weitaus weniger stabiles Dasein: Sie lassen sich häufiger scheiden, haben Kinder aus mehreren Beziehungen, die viel weniger fit sind für die Anforderungen einer neuen Wirtschaft. Paradoxerweise wählen Letztere – sofern sie weiß sind – eher die Republikaner.

Im Wahlkampf spielt auch das Modell des europäischen Wohlfahrtsstaats als Horrorszenario der Republikaner eine Nebenrolle. Warum jagt das den Amerikanern einen Schrecken ein?

Sie sind weniger erschrocken als uninformiert. Es ist ein Paradox: Wir reisen mehr denn je ins Ausland, lernen aber nichts daraus. Im Grunde glaube ich jedoch, dass die Amerikaner das europäische Modell von wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit im Vergleich zum amerikanischen Abenteuer der Eigenverantwortung als zu wenig „männlich“ ansehen.

Sind die USA heute stärker politisch polarisiert als während des Vietnamkriegs, der Watergate-Jahre oder der Clinton- und Bush-Ära?

Das Land ist auf allen Ebenen tiefer gespalten. Fox News ist als neuer Faktor dazugekommen. Der rechte Kabelsender hat eine undurchdringliche Blase erzeugt, in der sich Konservative um sich selbst drehen. Er füttert sie mit unbestätigten Gerüchten und falschen Statistiken. Fox News berichtet schlicht nicht darüber, was sich tatsächlich in der Welt ereignet. Er verleugnet journalistische Prinzipien, er ist eine Peinlichkeit für die wenigen seriösen konservativen Intellektuellen.

Barack Obama ist vor vier Jahren als Versöhner angetreten, der die Zusammenarbeit mit den Republikanern beschwor. Hat er die Verbitterung der Opposition unterschätzt?

Er dachte, Kompromisse seien trotz aller Differenzen möglich. Die Republikaner haben sich jedoch zu radikalen Jakobinern gewandelt, zu Geiseln der Tea Party. Sie betreiben Opposition um der Opposition willen, mit dem einzigen Ziel, wieder an die Macht zu gelangen. Sie führen einen Krieg der Symbole. Sie brauchen noch ein paar Niederlagen, um zur Räson zu kommen.

Populistische Bewegungen wie die Tea Party auf der rechten oder Occupy Wall Street auf der linken Seite haben in der Krise Auftrieb bekommen. Sind das nur vorübergehende Erscheinungen?

Keiner weiß, was zu tun ist. Es ist ja nicht so, dass einer die geheime Lösung in der Hosentasche hat. George W. Bush und Barack Obama haben während der Finanzkrise ja exakt die gleiche Politik gemacht – weil sie nicht wussten, was sie anderes tun sollten. Heute kann doch kein Politiker sagen „Ich weiß nicht, was ich tun soll“ oder „Es gibt eine 50:50-Chance, dass unsere Lösung aufgeht. Wenn nicht, versuchen wir etwas anderes.“ Die Menschen wollen eine selbstsichere Antwort. Wenn sie keine gute bekommen, akzeptieren sie auch eine schlechte.

Tut sich da eine Tür für eine dritte Partei auf?

Nein, unser System lässt das nicht zu. Und das ist auch gut so, denn wir haben ja kein parlamentarisches System.

Es sprudelt immer mehr Geld in den Wahlkampf. Entscheiden Milliardäre und Super PACs, außertourliche Spendenkomitees, die Wahl?

Das ist ein riesiges soziales und politisches Experiment. Sollte es ein Limit geben, haben die Leute genug von der Negativwerbung, haben Plutokraten zu viel Macht? Es ist noch zu früh, all das zu beantworten.

Auf einen Blick

Mark Lilla, Professor an der New Yorker Columbia-University, ist auf Einladung des Kreisky-Forums und des IWM in Wien.
Im IWM (Spittelauer Lände 3, 1090) diskutiert er heute, Dienstag (18.30), mit „Presse“-Chefredakteur Michael Fleischhacker über die US-Wahlen. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2012)

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