Die Tschechen trauern um Vaclav Havel

Tschechen trauern Vaclav Havel
Tschechen trauern Vaclav Havel(AP Photo/Petr David Josek)
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Die Symbolfigur der "Samtenen Revolution" ist tot. Der einstige Dissident Vaclav Havel ist im Alter von 75 Jahren gestorben.

Prag. Vielleicht war es seine größte Stunde nach dem Ablauf seiner Amtszeit als Präsident: Am 20. Jahrestag der „Samtrevolution“ entert Vaclav Havel unter dem Jubel von Zehntausenden eine Bühne in der Prager Innenstadt und singt mit Joan Baez den unsterblichen Song „We shall overcome“. Die Tschechen, die diese Bilder live im Fernsehen sehen, liegen ihm in diesem Moment noch einmal zu Füßen. Er ist noch einmal der Held, der sie befreit hat von der kommunistischen Totalität. Mit seinen Fingern formt er das Victory-Zeichen, ruft: „Ich bin immer mit Euch!“ und die Prager rufen zurück: „Vašek, wir sind immer mit Dir!“ Havel lächelt wie immer etwas verlegen, aber auch verschmitzt. Er mag eigentlich solche Huldigungen nicht. Aber in diesem Augenblick hat er sie doch mehr genossen, als erlitten.

Es sind solche Bilder, die seit Sonntag Mittag ohne Ende auf allen Kanälen des tschechischen Fernsehens immer und immer neu gezeigt werden. Fernsehen und Radio haben ihre Programme geändert, die Zeitungen kommen mit einer Sondermeldung nach der anderen in ihren Internetausgaben. Und ein ganzes Land ist wie im Schock: Vaclav Havel, ihr „Vašek“, ist nicht mehr. Er starb in der Nacht zum Sonntag friedlich, im Schlaf. Auch wenn die  Nachricht nicht unerwartet kam; sie hat die Tschechen dennoch bis ins Mark getroffen.

Seit Monaten ging es dem früheren tschechoslowakischen und tschechischen Präsidenten sehr schlecht. Er litt seit März unter schweren Atemproblemen. Seine öffentlichen Auftritte wurden immer seltener. Vergangene Woche kam er von seinem Landhaus in Nordböhmen, wo die Luft besser ist als im Kessel der Moldau, noch einmal nach Prag, um einen seiner engsten politischen und persönlichen Freunde zu treffen, den Dalai Lama. Er äußerte sich auch noch einmal politisch, sorgte sich nach den Wahlen in Russland um den Zustand der Demokratie dort. Bis zuletzt blieb er sich so treu.

Als Havel im Juni seinem Nachfolger im Präsidentenamt, Vaclav Klaus, zu dessen 70. Geburtstag gratulierte, hatte er unter anderem geschrieben: „Ich möchte Dir vor allem Gesundheit wünschen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“

Ich hatte viele persönliche Begegnungen mit dem Altpräsidenten. Eine, die mir immer erinnerlich sein wird, fand ohne ihn statt, bei einer Filmpremiere: Der Abspann des Filmes war schon ein paar Minuten vorbei, doch im Prager Kino Aero konnte man noch immer eine Stecknadel fallen hören. Dann erhoben sich die ersten Besucher und begannen spontan zu applaudieren. Wenig später stand der ganze Saal. Erstaunlich viele junge Menschen darunter, manche mit Tränen in den Augen. „Občan Havel“ (Bürger Havel) hatten sie mit mir gesehen, eine beeindruckende dokumentarische Langzeitbeobachtung ihres einstigen Präsidenten. Der minutenlange Applaus wirkte wie ein Ehren-Oscar für sein Lebenswerk. Für ein Leben, dessen Kreis sich geschlossen hat. Mit ihm verliert das Nachbarvolk einen Mann, den es sehr verehrt, teilweise regelrecht angebetet hat, der dem Land großes internationales Renommee eingetragen hat. Und Europa und die Welt einen Politiker, wie es nur wenige gab und gibt.

Am 2. Februar 2003 endete die letzte seiner möglichen Amtszeiten, in denen er als Präsident gleich zwei Staaten vorstand, der Tschechoslowakei und der Tschechischen Republik. Eigentlich wollte er gar nicht Staatsoberhaupt werden, am Ende jener verrückten, alle Welt bezaubernden Tage der „Samtrevolution“ 1989. „Olga (Havels erste Ehefrau, Anm.) ist auch dagegen“, zitiert ihn seine Biografin Eda Kriseová. Sie habe gedroht, sie werde sich scheiden lassen. Und Olga selbst zur Biografin: „Das ist unmöglich, dass er Präsident wird. Du weißt doch auch, dass er sich nicht dafür eignet.“ Doch Vaclav und Olga hätten da schon nicht wirklich mehr nein sagen können. „Havel na hrad!“ – „Havel auf die Burg!“, skandierten Zigtausende auf dem Prager Wenzelsplatz und hätten ihn notfalls auch auf ihren Schultern ins Amt getragen. Als der einstige Staatsfeind dann tatsächlich in die prunkvollen Räume der Prager Burg einzog, erschien ihnen das wie in einem modernen böhmischen Märchen.

Man kann auf verschiedene Art Bilanz der Jahre mit Havel ziehen. Die dem Dichterpräsidenten wohl fernste wäre eine in schnöden Zahlen. Aufschlussreich sind die aber trotzdem. Bei 181 Staats- und Arbeitsbesuchen verbrachte er 391 Tage, mehr als ein ganzes Jahr, in 59 Ländern. Am häufigsten war er in Deutschland und den USA. Es hätten noch viel mehr Reisen sein können, hätte es da nicht auch eine schmerzlichere Statistik gegeben. Die weist allein in seiner Präsidentenära 17 Krankenhausaufenthalte verteilt über 230 Tage aus. Mehrfach hing Havels Leben an einem seidenen Faden, zweimal rettete ihn der Innsbrucker Chirurg Ernst Bodner in letzter Minute. In jenen Tagen suchten viele der sonst herzlich gottlosen Tschechen Halt im Gebet, bemüht, den ihnen ganz unerträglichen Gedanken zu verscheuchen, dass am Ende auch ihr „Vašek“ sterblich sein könnte.

Eine völlig andere Bilanz lässt sich über Bilder malen, die im kollektiven Gedächtnis seiner Landsleute bleiben werden: Havel, wie er als Dissident aus einem verqualmten Hinterzimmer der „Laterna magica“ heraus den politischen Umsturz leitet und Abend für Abend von einem Balkon über dem Wenzelsplatz mit einem Schlüsselbund in der Hand symbolisch das Ende des kommunistischen Regimes einläutet. Havel, wie er als frisch gewählter, von einer wahnsinnigen Aufgabenfülle gehetzter Präsident, die keine Zeit zum Kauf von Maßanzügen lässt, ihn in deutlich zu kurzen Beinkleidern durch die Lande eilen lässt. Havel, wie er mit einer damals noch unvermeidlichen Zigarette Feueralarm beim Besuch eines Atomkraftwerks auslöst und treuherzig jede Schuld von sich weist. Jener Havel, der im fernen Australien ein Empfangskommando auf dem Flughafen ignoriert, um mit den Rolling Stones, seiner Lieblingsband, zu plaudern, die er zufällig auf dem Rollfeld trifft. Der Havel, der im Juli 1992, als klar war, dass der gemeinsame Staat mit den Slowaken nicht mehr zu halten war, Journalisten aus einem Burgfenster „Auf Wiedersehen in besseren Zeiten!“ zuruft, in abgewetzte Jeans schlüpft, um in einer seiner alten Lieblingskneipen erst einmal ein paar ordentliche Bier zu trinken. Oder der Havel, der auf dem ersten Nato-Gipfel in einem früheren Ostblockland bescheiden und wie immer etwas verlegen Ehrungen und Ovationen der Großen dieser Welt für sein politisches Lebenswerk entgegennimmt.

Sein politisches Comeback nach dem Zerfall der Föderation mit den Slowaken wurde überschattet, als die im Volk hoch verehrte Olga Havlová an Krebs starb. Später, das erste Mal selbst knapp dem Tod entronnen, fand Havel in der Schauspielerin Dagmar „Dáša“ Veškrnová eine neue Liebe. Viele mochten die hübsche Dáša als Theater- oder Leinwandstar; als First Lady hielten sie sie für untragbar. Ganz außer sich gerieten die Tschechen, als Dáša 1998 bei Havels letzter Wiederwahl einen politischen Rechtsaußen gellend auspfiff, der den Präsidenten auf üble Weise beschimpft hatte. Auch die „Demokraten“ unter den Politikern ereiferten sich da. Jene, die Havel mit dem denkbar knappsten Votum einen Denkzettel verpasst, aber nicht die Courage aufgebracht hatten, eigene Kandidaten gegen den Präsidenten aufzustellen. Auch den erforderlichen Lebensmut in gesundheitlich schweren Tagen bezog Havel vor allem aus Dáša.

Seine Landsleute werden sich vor allem Havels Reden erinnern, die sich bis zuletzt ganz anders anhörten als Reden „normaler“ Politiker. Reden freilich, mit denen er sie auch immer wieder neu irritierte, deren Inhalten sie mitunter nur widerwillig zustimmten. Wenn der Präsident seinen Landsleuten ihre „schlechten Eigenschaften“ vorhielt, von „nationaler Gehässigkeit“, „Rassismus“, „Demagogie“, „Intrigantentum“ oder „Mangel an Toleranz, an Geschmack, Sinn für Maß und Bedachtsamkeit“ sprach, fühlten sie sich missverstanden und beleidigt. Bis heute fällt es der tschechischen Gesellschaft nicht leicht, den eigenen Anblick im moralischen Spiegel zu ertragen.

Doch Havel ging es nie darum, die Menschen in der Art eines Oberlehrers anzuklagen, weil sie sich – wie er sagte – plötzlich in mancher Hinsicht schlechter verhielten als in der Zeit der Unfreiheit. Der geborene Anti-Schwejk Havel wollte sie vielmehr aufrütteln, sie an die Tugenden erinnern, die sie im Glückstaumel der Revolution so einzigartig bewiesen hatten. Er wollte ihrem „atomisierten, eingeschüchterten, ja gelähmten Potenzial an gutem Willen“ neuerlich eine Richtung geben, um auch die Mühen der Ebene bei der demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft erfolgreich durchschreiten zu können. Havel appellierte gern auch an die Menschen, ein „grundsätzliches Gefühl der Mitverantwortung für den Zustand der Welt“ zu entwickeln. Ein Versuch, seinen Landsleuten sein eigenes Gefühl nahe zu bringen, das ihn Zeit seines Lebens bewegte und ihn spätestens in den sechziger Jahren zwangsläufig in Konflikt zum damaligen Regime geraten liess. Ein Regime, das ihn allein schon wegen seiner bürgerlichen Herkunft ewig benachteiligt, ihn später als Mitinitiator der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ verfolgt, mehrfach, insgesamt fast fünf Jahre eingekerkert und das den Dramatiker von Weltruf von den Bühnen im eigenen Land verbannt hatte.

„Lehren wir uns selbst und andere, dass Politik auch die Kunst des Unmöglichen sein kann, sich selbst und die Welt besser zu machen“, hatte Havel sein Credo in seiner ersten Neujahrsansprache in Worte gefasst. Immer wieder sprach er von einer „sittlichen Politik“. Anstand, Vernunft, Verantwortung, Aufrichtigkeit, Kultur und Toleranz seien nur auf eine einzige Weise durchsetzbar: anständig, vernünftig, verantwortlich, aufrichtig, kultiviert und tolerant. Es mache für ihn „grundsätzlich Sinn, das Gute anzustreben“. Sätze, die die Tschechen aus Politikermündern zuvor so nie gehört hatten und die man auch im Ausland begierig aufnahm. So wurde Havel zu einer der großen, unverwechselbaren, weitsichtigen Gestalten auf dem politischen Weltparkett.

Havel hatte jedoch auch keinen Mangel an harten politischen Widersachern. Legendär sind vor allem die Auseinandersetzungen mit Vaclav Klaus gewesen, die von völlig unterschiedlichen Politikmodellen herrührten. Der Präsident wiederum machte es sich mitunter auch leicht, wenn er die Verantwortung für Missstände im Land, für die – wie er sagte – „schlechte Laune“ der Tschechen, ausschließlich anderen aufbürdete. Auch Havel selbst war nie unfehlbar, muss sich vor allem anrechnen lassen, dass er im Konflikt mit den Slowaken stellenweise naiv und unüberlegt gehandelt hat. Völlig überfordert hat er anfangs sein Volk auch mit seinem Wort vom „unmoralischen Unrecht“ der Nachkriegsvertreibung konfrontiert. Später, auch wegen des mangelnden Echos in Deutschland, hat er dies etwas korrigiert und wechselte zur traditionellen tschechischen Position, wonach das Übel der Vertreibung nur eine traurige Folge des Übels gewesen sei, das dem vorausging. Trotzdem gebührt Havel das Verdienst, die Aussöhnung mit den Deutschen wie auch die innertschechischen Debatte über eigenes geschichtliches Versagen wie kein anderer angestoßen zu haben.

Als Havel aus dem Amt schied, hinterließ er eine vertrauenswürdige und respektierte Demokratie, ein Land, das zur Nato gehört und sich damals anschickte, in die EU aufgenommen zu werden. Tschechien war da auf dem Weg, zu einem ganz „normalen“ Land zu werden, das den Zauber der Revolutionszeit lange hinter sich gelassen hat.
Havel hat sich nach seiner aktiven politischen Zeit immer wieder in das Geschehen in seinem Land eingemischt, hat überdies große Verdienste in Menschenrechtsfragen erworben. Seine größte Freude war es aber, wieder zu den Wurzeln als Dramatiker zurückkehren zu können. Die Uraufführung seines Stückes „Abgang“, das er später selbst verfilmte, bescherte ihm ein umjubeltes Comeback als Bühnenautor. Das Werk handelt von den Gefühlen eines Staatsmannes, dessen Zeit abgelaufen ist, zeigt, wie ein Mensch in einer ganz anderen Welt lebt, als er glaubt. Havel hat als Politiker immer die Angst umgetrieben, den Blick für die Realitäten zu verlieren. Er wollte nicht zum selbstverliebten Schwächling werden, der einst Prinzipien hatte, im Angesicht des Machtverlustes aber seine Wertvorstellungen leichthin opfert, wie das dem Haupthelden in seinem Stück passiert. Havels Angst vor eigenem Versagen war unbegründet. Er ist sich bis zum Schluss, nicht nur seiner politischen Karriere, treu geblieben. Havel wird eine riesige Lücke in seinem Land hinterlassen. Aber nicht nur dort.

("Die Presse" Printausgabe vom 19.12.2011)

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