Hungerkrise: Trügerisches Grün am Horn von Afrika

(c) AP (Anthony Mitchell)
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Äthiopien präsentiert sich während der Regenzeit als grünes Herz des schwarzen Kontinents. Doch der Schein trügt, die nächste Hungerkatastrophe steht nach Meinung von Experten unmittelbar bevor.

Addis Abeba. Es sind nur wenige Millimeter, welche die alles entscheidende Frage nach dem Grad der Unterernährung im Bushulo Health Centre am Stadtrand von Awassa im Herzen Äthiopiens entscheiden. Hier wurde Hunger messbar gemacht. Das Maßband wird zum Scharfrichter, der Umfang des Oberarms zum Untersuchungsobjekt.

Der sechsjährige Altesa hat Glück im Unglück: Bei 1,16 Metern Körpergröße wiegt er gerade einmal 16,6 Kilo, sein dürrer Arm misst 12,9 Zentimeter, fünf Zentimeter weniger als der Arm eines durchschnittlichen österreichischen Kindes gleichen Alters. Damit ist er offiziell unterernährt und hat Anspruch auf Nahrung. Sechs Millimeter mehr und er hätte das Schicksal seiner Mutter geteilt, hätte ohne Essen in sein 18 Kilometer entferntes Dorf zurückkehren müssen.

Dürre im Überfluss

Wer Äthiopien dieser Tage besucht, dem kommen die Hungermeldungen vom Horn von Afrika vor wie Cassandra-Rufe aus einer anderen Welt. Die Felder – egal ob mit Weizen, Mais oder der lokalen Hirsesorte Teff bepflanzt – gedeihen und für das Vieh findet sich genügend Grünland, um seinen Hunger zu stillen. Doch der Schein trügt.

Offiziellen Angaben zufolge leiden derzeit 4,6 Millionen Äthiopier Hunger. Experten gehen davon aus, dass sich diese Zahl in den kommenden Monaten dramatisch erhöhen wird. Denn die Nahrungsvorräte werden knapp, mit der nächsten Ernte kann vor November nicht gerechnet werden – vorausgesetzt, die Regenzeit verläuft weiter erfolgreich. Wenn nicht, droht den mehr als 79 Millionen Äthiopiern eine Hungerkrise noch nie da gewesenen Ausmaßes.

Der weltweite Anstieg der Nahrungsmittelpreise wirkt sich am Horn von Afrika besonders dramatisch aus. Für die Regierung von Premier Meles Zenawi kommt die Krise zu einem denkbar ungelegenen Zeitpunkt. Von September 2007 bis Ende August 2008 begehen die Äthiopier die Feiern zum Beginn des neuen Millenniums nach dem im Land verwendeten Koptischen Kalender. Die Bevölkerung wurde deswegen zur kollektiven Feierstimmung vergattert. Daran konnte auch das fast vollständige Ausbleiben des eigentlich für Ende des Vorjahres erwarteten Regens nichts ändern. Dessen ungeachtet erklärte die Regierung noch im Februar, die zwischen November und Jänner eingebrachte Ernte hätte quer durch das Land Zuwachsraten von genau zehn Prozent erzielt.

UN-Diplomaten und Hilfsorganisationen bezeichnen solche Zahlen bestenfalls als Wunschdenken, die Preisentwicklung am äthiopischen Getreidemarkt gibt ihnen Recht. In der ersten Jahreshälfte hat sich der Preis für Teff (von 450 auf 1400 Birr) und Mais (von 270 auf 750 Birr) beinahe verdreifacht, der für Weizen sich mehr als verdoppelt. 100 Kilo Teff kosten damit mehr, als ein äthiopischer Lehrer pro Monat verdient. Für die Bauern, zu denen fast 85 Prozent der äthiopischen Bevölkerung zählen, ist Saatgut mittlerweile nahezu unerschwinglich.

Um Unruhen in den Städten zu verhindern, verkaufte die Regierung fast den gesamten nationalen Getreidevorrat von 400.000 Tonnen in den Ballungszentren. Der Landbevölkerung, nach offizieller Regierungsstatistik ohnedies im Übermaß schwelgend, blieb nichts anderes übrig, als zu beginnen, ihre eisernen Kornreserven aufzulösen.

Getreidevorräte verkauft

Diese gehen jedoch bei immer mehr Menschen zur Neige. Ein Beleg dafür ist die ständig steigende Zahl der Bittsteller, die bei Ausgabestellen für Nahrungsmittel vorstellig werden. Daniel Senbet, der Leiter des von der Caritas unterstützten Ernährungsprogramms in Bushulo, erfährt die Verschlechterung Tag für Tag am eigenen Leib. „Seit Jahresbeginn haben wir 661 Fälle von schwerer Unterernährung behandelt, fast doppelt so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. Und die Zahl der pro Monat aufgenommenen Patienten hat sich von Jänner bis Juni fast verachtfacht“, erklärt Senbet. Die Zahl der leichteren Fälle, die wie der kleine Altesa versorgt und dann nach Hause geschickt werden, ist längst Legion.

Als Ersthilfe wird in Bushulo Famix verteilt, eine weiße, pulvrige Mischung aus Mais, Soja, Zucker, Mineralstoffen, Salz und Vitaminen. Diese wird mit Wasser vermischt und als Brei oder Brotersatz gegessen. Doch die steigenden Nahrungsmittelpreise machen auch vor Famix nicht halt. Kosteten 100 Kilo der Ergänzungsnahrung zu Jahresbeginn noch 600 Birr, schlug dieselbe Menge im Juli mit 1015 Birr zu Buche, Tendenz weiter steigend. Das setzt besonders die Hilfsorganisationen unter Druck, die bei ihren Jahresbudgets vom weit niedrigeren Jänner-Preis ausgegangen waren.

Was die gegenwärtige Krise einmalig in der äthiopischen Geschichte macht, ist ihre Ausweglosigkeit. Sollte die für November erwartete Ernte geringer als erwartet oder gar ganz ausfallen, sind Alternativen Mangelware. Durch den Verkauf des Getreidevorrats hat die Regierung ihr letztes Mittel zur Regulierung vorzeitig – und nicht zielgerichtet – aus der Hand gegeben.

Fakten

■ Mit einer Fläche von mehr als 1,1 Millionen Quadratkilometern ist Äthiopien beinahe viermal so groß wie Deutschland. Fast 85 Prozent der 79 Millionen Einwohner sind in der Landwirtschaft tätig. Das jährliche BIP pro Kopf betrug 2007 gerade einmal rund 514 Euro. ■ Die Caritas widmet die Erlöse ihrer diesjährigen Augustsammlung unter anderem ihren Hilfsprojekten in Afrika. Spendenkonto: PSK 7.700 004,BLZ: 60 000, Kennwort: Augustsammlung. Online-Spenden unter: www.caritas.at

Die Hilfsorganisationen, allen voran das World Food Program, werden ihre Reserven bis dahin aufgebraucht haben. Und auf dem Weltmarkt sorgt die massive Nachfrage bekanntlich für einen mörderischen Preiskampf, zu dessen ersten Opfer die finanzschwachen afrikanischen Staaten gehören.

Für den sechsjährigen Altesa ist die schlimmste Gefahr vorerst gebannt. Für ihn werden 4,5 Kilo Famix abgewogen, die er in einem mitgebrachten Plastiksack 18 Kilometer nach Hause schleppen darf. Dort warten seine Eltern und seine drei Geschwister auf ihn. Für mitteleuropäische Verhältnisse stünde deren Unterernährung keinesfalls zur Debatte, das Maßband von Daniel Senbet widerspricht dieser Ansicht jedoch. Und im Zweifel hat das Maßband recht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2008)

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