Lampedusa: Durchgangsstation am Südrand Europas

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Flüchtlingsstrom auf die italienische Felseninsel Lampedusa reißt nicht ab. Täglich kommen rund 1000 junge Männer, sie suchen Arbeit in Europa. Die ersten 5000 Menschen kamen binnen weniger Tage im Februar.

Das „Tor Europas“ steht an einem wilden, einsamen Ort. Der Wind pfeift über das Kap Maluk, heult durch die imaginäre Tür in dem fünf Meter hohen Monument. Der Blick geht nach Süden, über das aufgewühlte, schäumende Meer. Auf der anderen Seite liegt Afrika. Leicht zu finden ist das Tor Europas nicht. An den Keramikplatten des Mahnmals hängen reliefartig Hände und Köpfe, Nummern, zertretene Schuhe und Schalen aus Ton.

Seit drei Jahren erinnert es an all jene, die die gefährliche Reise in das ersehnte Europa angetreten und nicht überlebt haben. Niemand weiß, wie viele es sind. Ein paar fanden ihre letzte Ruhestätte in einer Ecke des Friedhofs von Lampedusa. Kleine Holzkreuze erinnern an die namenlosen Toten. Die Anziehungskraft von Europa ist größer als die Angst vor dem Tod. „Angst? Ja, selbstverständlich hatten wir Angst“, sagt Nassereddine Nissa. Dann lächelt er ein halb verlegenes, halb selbstbewusstes Lächeln. „Aber wir haben es ja geschafft.“ Nissa schiebt herausfordernd ein Bein nach vorn. Er trägt einen schwarzen Trainingsanzug, ist groß und gertenschlank. Im Blick des jungen Tunesiers spiegelt sich vieles, Erleichterung, ein wenig Abenteuerlust, die Unsicherheit, mit gerade 22 Jahren weit weg von zu Hause zu sein, in einem Land, dessen Sprache er nicht spricht und in dem er nicht willkommen ist.

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Lager in Schlucht vor dem Dorf

Mit drei Freunden streift er an diesem bleigrauen kalten Frühlingstag durch die Straßen. In der Hauptstraße, der Via Roma, haben die meisten Geschäfte und Restaurants noch geschlossen, dafür wimmelt es nur so von strammen Carabinieri und Polizisten, Mitgliedern der Küstenwacht und der Finanzpolizei, die fast wieder im Stundentakt Flüchtlingsboote in den Hafen eskortieren. Lieber machen die vier jungen Männer einen Bogen um sie. Denn eigentlich dürfen sie das Auffanglager, das in einer Schlucht außerhalb des Dorfes liegt, nicht verlassen. Zwei Jahre lang kamen praktisch keine Flüchtlinge mehr auf Lampedusa an, bis der Wind der Revolution über Nordafrika hinwegfegte. Er hat einen für die Europäer unerwarteten Nebeneffekt: Tausende von jungen Tunesiern nutzen die Gelegenheit und treten nun, da die Küsten nicht mehr so strikt kontrolliert werden und das Rückführungsabkommen zwischen beiden Ländern praktisch ausgesetzt ist, die Reise über das Meer an.

Die erste „Welle“ kam, völlig überraschend, im Februar, 5000 Menschen binnen weniger Tage. Die Mitte-rechts-Regierung in Rom musste das Lager wieder öffnen. Dann beruhigte sich die Lage, vorübergehend, wenn auch nur, weil das Wetter umgeschlagen hatte. In den vergangenen Tagen aber sind wieder über 3000 Tunesier gelandet, und Innenminister Roberto Maroni von der fremdenfeindlichen Lega Nord drängt erneut auf Hilfe der EU. Wohl kaum ein Land blickt derzeit so gebannt und ängstlich nach Libyen wie Italien. Kein westlicher Politiker war mit Muammar al-Gaddafi so intim wie Italiens Premier Silvio Berlusconi. Gaddafi galt auch als Garant dafür, dass der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer versiegt ist – egal, um welchen Preis. Auch die anderen europäischen Länder fürchten sich vor dem drohenden Exodus, vor dem Maroni seit Wochen warnt.

Damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Europa ist über seine Flüchtlingspolitik so zerstritten wie eh und je, und der angebliche Großeinsatz der „Frontex“ auf Lampedusa besteht darin, dass ein blutjunger Sprecher der EU-Grenzschutzagentur vor Ort ist.

Touristenidyll im Winterschlaf

Nasser und seine Freunde wissen nicht viel über diesen Streit. Dafür spüren sie, wie ihnen die Blicke folgen, wie die Gespräche verstummen, wo immer sie hinkommen. Sie schlendern hinunter in den Hafen, vorbei am Friedhof für die gestrandeten Boote. Wäre da nicht die Unruhe draußen an der großen Mole, wo sich die Fernsehteams drängeln und auf die ankommenden Flüchtlingskähne warten, es wäre ein sehr stilles Idyll eines Touristendorfes im Winterschlaf, mit sanft schaukelnden malerischen Fischerbooten und alten Männern, die sich zum Plaudern treffen. „Was kann man hier sonst machen?“, erkundigt sich Nassers Freund Hamza Chaabane und blickt sich suchend um.

Lampedusa, das Tor zwischen Afrika und Europa, ist ein wilder, einsamer Ort, eine karge 20 Quadratkilometer kleine Felsklippe, die eine Laune der Geschichte schließlich dem Königreich Italien zuschlug. Bis nach Sizilien sind es 200 Kilometer, nach Tunesien nur 130, und zu Afrika gehört Lampedusa auch geologisch und klimatisch. Die Vegetation ist spärlich, es gibt keine Bäume und keine Quellen, dafür aber Schnorchelparadiese in stillen Buchten.

Alles, was die rund 5000 Menschen auf der Insel zum Leben brauchen, muss aus Sizilien hergeschafft werden, sogar das Wasser. Stürmt es im Winter längere Zeit, werden die Lebensmittel knapp. Wer größere Einkäufe machen will, fliegt nach Palermo. Nach Sizilien aber muss auch, wer krank ist oder ein Kind entbinden will. Es ist ein Leben der Extreme, am äußersten Südrand Europas, diese einzigartige Lage hat die Lampedusani geprägt. Dauerhaft besiedelt ist die Insel erst seit 300 Jahren wieder.

Besser gekleidet, gut vernetzt

Die modernen Glückssucher auf der „Durchreise“ müssen im Lager haltmachen, das Platz für 850 Menschen bietet, hell und funktional ist. In der Mensa läuft die Pasta vom Band, es gibt eine Krankenstation und moderne sanitäre Anlagen. Seit Dienstag drängen sich dort wieder mehr als 1500 Menschen. „Wir tun, was wir können“, sagt Federico Miragliotto. Der Leiter des Lagers ist nur wenig älter als die meisten Flüchtlinge, sein Gesicht von Erschöpfung gezeichnet. Auch die Kleidung, die er trägt, unterscheidet sich nicht von der der Lagerinsassen, Jeans, Turnschuhe, eine warme Jacke.

Es ist eine neue Generation, die jetzt ankommt. Sie sind besser gekleidet, gut vernetzt und gesundheitlich in viel besserem Zustand als die von unendlichen Strapazen gezeichneten Schwarzafrikaner aus Nigeria, dem Kongo, Somalia und Eritrea, die noch vor knapp drei Jahren hier angekommen sind. Die wenigsten sind politisch Verfolgte.

„Wir wollen nach Frankreich“

„Wir können arbeiten, und wir wollen nichts außer arbeiten“, wiederholt Nasser mehrmals. Jetzt warten die vier darauf, aufs Festland weitertransportiert zu werden. Dort werden sie auf andere Lager verteilt, auf Sizilien, in Kalabrien und Apulien, warten auf Papiere oder Ausweisungsbescheide.

Danach haben sie nur ein Ziel: Frankreich, wo fast alle Freunde oder Verwandte haben. Wie schwierig das werden wird, wissen die jungen Männer nicht. Und erst recht nicht, welch elende Existenz diejenigen Afrikaner in Italien führen, die illegal am Rande der Gesellschaft leben. Vorsichtshalber üben sie schon mal ein paar italienische Brocken. „Cerco lavoro“, ich suche Arbeit, und „mi chiamo Nasser“, ich heiße Nasser. Die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 9. März 2011)

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