Lass dich gehen!

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Gehen ist das Aschenputtel unter den sportlichen Betätigungen. Obwohl es Kalorien verbrennt, Krankheiten vorbeugt und nichts kostet. Jetzt soll der Fußmarsch wieder schick werden.

Es ist ja wirklich nichts dabei. Zumindest nicht für den durchschnittlich gesunden Menschen. Ein Fuß vor den anderen, links, rechts, links, rechts. Geschwindigkeit variabel, Richtung detto, Alter egal, Kleidung egal, Schuhwerk egal, Witterung egal. Man kann dabei reden, essen, Händchen halten, telefonieren, Dinge und (kleine) Menschen tragen, Stöcke schwingen oder – mit etwas Umsicht – sogar lesen. Meistens macht man's aber einfach so: Man geht.

Thema erschöpft? Nicht ganz. Wer in flottem Tempo geht – ungefähr so, als wäre er spät dran für einen Termin – verbrennt mindestens fünf Kalorien pro Minute. Wer eine Meile (1,6 Kilometer) in 15 Minuten geht, baut genauso viele Kalorien ab wie jemand, der eine Meile in 8,5 Minuten läuft. Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen, die mehr als vier Stunden pro Woche zügig gehen, um die Leibesmitte herum deutlich weniger zunehmen als jene, die nicht so oft in die Gänge kommen. Als kleine Draufgabe profitieren eifrige Geher außerdem von gestraffteren Gesäßmuskeln, einer Zunahme der allgemeinen Fitness und Vorbeugung gegen Lebensstilerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Herz-Kreislaufproblemen. Und sie bekämpfen auf diese Weise auch ganz nebenbei das Problem, das westlichen Gesellschaften zunehmend Sorgen macht: immer dickere Bevölkerungen, die sich immer weniger bewegen.

Sportmediziner lernen diese Fakten im ersten Semester. Doch Laien lassen sich gerne davon überraschen. Denn wer nimmt schon Gehen als sportliche Betätigung ernst – in Zeiten, in denen Sport nur dann etwas gilt, wenn man sich dafür entsprechend ausrüsten, vorbereiten und unterweisen lassen muss.

„Leider viel zu wenige Menschen“, sagt Nick Cavill. Der Experte für öffentliche Gesundheit und Fitness, der demnächst an der Universität Salzburg im Rahmen des MAS-Lehrgangs „Advanced Studies Health and Fitness“ unterrichten wird, ist seit Längerem in Großbritannien in eine Kampagne involviert, die die Menschen wieder auf Trab bringen soll. „Wir unterschätzen Gehen dramatisch. Das liegt daran, dass es für uns einfach zu selbstverständlich ist“, meint Cavill.

Oder eben auch nicht mehr. Gesundheitsbeauftragte in der „zivilisierten Welt“ klagen darüber, dass die Fettleibigkeit „dramatisch zunimmt“ (Cavill), dass bereits viele Kinder sich weigern, auch nur kurze Wege zu Fuß zurückzulegen, dass spätestens ab dem Teenageralter das Gehen verlernt wird, weil alternative Fortbewegungsmittel allzu leicht verfügbar sind.

In Großbritannien besinnt man sich daher wieder einmal der Idee, Gehen wieder „in“ zu machen. Und zwar weder als „Power Walking“ (wo man mit Geschwindigkeiten von sieben bis neun Kilometer pro Stunde unterwegs ist) noch als „Nordic Walking“, dem ein gewisser Pensionistennimbus anhängt, sondern einfach in seiner ursprünglichen Form: als selbstverständliches Fortbewegungsmittel. Oder, wie Cavill sagt: „Hey, wir sind einfach dazu geboren.“

Erleuchtung bei Karaoke. Zu diesem Schluss kam Sir Muir Gray schon vor Längerem. Zumindest für sich selbst. Dass es sein Auftrag sein könnte, auch andere davon zu überzeugen, ging dem angesehenen britischen Experten für öffentliche Gesundheit an einem eher ungewöhnlichen Ort auf: in einem Pub. Der begeisterte Karaoke-sänger lachte zuerst noch über die falsche Ansage seines Titels – „Walk for Life“ statt „Walk of Life“ von den Dire Straits. Doch der Versprecher brachte ihn auf eine Idee. Und aus dieser wurde ein Buch – „Dr. Gray's Walking Cure“ – und später eine Mission: Muir Gray will jeden Briten dazu bringen, zwischen 2009 und der Austragung der Olympischen Spiele in London im Jahr 2012, eine Million zusätzlicher Schritte zurückzulegen. Unterstützt wird er in seiner Geh-Attacke von einer Fülle von Aktionen und Plattformen, von „Campaign for Walking“ bis zu „Living Streets“ und „Walk to School“.

Gray und Cavill raten, beim Gehen grundsätzlich noch zehn Prozent draufzusetzen. Die gute Nachricht: Auch wer glaubt, sich gar nicht zu bewegen, geht mindestens an die 3000 Schritte pro Tag. „Wer zu Fuß einkaufen und zur U-Bahn geht, kommt auf 6000 Schritte“, rechnet Nick Cavill. „Hängt man nochmals 20 Minuten Fußmarsch an, ist man schon bei 10.000 Schritte.“

Kleine Kniffe, um mehr zu gehen, gibt es genug: eine U-Bahn-Station früher aussteigen oder zu Fuß ins Büro gehen (vorausgesetzt, man wohnt in einem überschaubaren Radius). Man kann Gehen auch in den Arbeitsalltag integrieren. Wie Muir Gray, der alle Telefonate im Gehen erledigt, sich im Gehen auf Meetings vorbereitet und seine Kollegen gerne zu „Konferenzen per pedes“ vergattert.
Das Pedometer. Auch Freunde sportlich-technischer Hilfsmittel brauchen trotz des frugalen Charakters des Gehens den Entzug nicht zu fürchten. Für sie gibt es Pedometer, mit deren Hilfe man nicht nur die absolvierten Schritte zählen kann, sondern auch die zurückgelegte Distanz und bei manchen Modellen sogar die verbrannten Kalorien. Was zwar funktioniert, letztlich aber egal ist. Denn es „geht“ laut Nick Cavill nur um ein Ziel: „Gehen muss einfach wieder zur Gewohnheit werden.“

„Technik“ ist fast zu viel gesagt, aber ein paar Dinge sollte man auch beim Gehen beachten (abgesehen von bequemen Schuhen):

Von der Ferse über die Zehe abrollen, das strafft die Gesäßmuskeln. Hals gerade halten, Schultern zurück. Als Fleißaufgabe Bauch anspannen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2010)

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