„Winter's Bone“: Erlösung in Missouri

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Debra Graniks packender Film ist ein vierfach Oscar-nominierter „Country noir“. Sie führt sie die Geschichte an immer groteskere Orte, reist vom Konkreten in eine abstrakte Seelenlandschaft. Im Kino.

Wie der Wind und der Schnee um die bleichen Beine des 17-jährigen Mädchens jagen, während sie vor ihrem Zuhause, einer baufälligen Holzhütte, steht, das ist ein Bild von ewiger Qualität. Solche Aufnahmen sind selten im zeitgenössischen Independent-Kino, das vor allem darauf eingerichtet ist, Hollywoods glatten Oberflächen nachzujagen und nur nicht zu auffällig zu sein. Vor 20 Jahren noch war die unabhängige Produktionslandschaft ein notwendiger, ästhetisch und inhaltlich radikaler Gegenpol zu ununterscheidbar gewordenen Studiofilmen, mittlerweile dreht sich vieles ums Nachäffen, Anpassen und Angleichen.

So horcht und blickt man schon auf in den ersten Minuten von Debra Graniks vierfach Oscar-nominierter Literaturverfilmung Winter's Bone, die einen unvermittelt in die vormoderne Welt der Ree Dolly (sensationell: Jennifer Lawrence) in Missouris Ozarks stürzt. Die junge Frau mit zarten Gesichtszügen hätte in einem anderen Leben Cheerleaderin und Prom Queen werden können, hier aber muss sie ihre von psychischen und körperlichen Krankheiten zerfressene Familie erst beschützen, später erlösen. Starke Muskelpartien bestimmen ihren schlanken Körper, die Geschichten von harter Arbeit und einem noch härteren Leben erzählen.

„Way down in Missouri“, wie der „Missouri Waltz“ verkündet, kümmert sie sich um die katatonische Mutter und die zwei kleinen Geschwister. Der Vater hat für seine Kaution Haus und Hof verpfändet, nun ist er verschwunden: Meldet er sich binnen einer Woche nicht bei den Behörden, steht die Familie auf der Straße. In den Ozarks, dieser Welt aus Wind, Schnee, Regen und Kälte, regieren seit Dekaden dieselben Sippschaften: Man heiratet untereinander, hält zusammen, schottet sich ab von den Städtern, die dieses Leben ohnehin nicht verstehen würden. Man muckt nicht auf, wenn ein Clan-Kapo Befehle erteilt. Rees Suche nach dem Vater ist ein Störfaktor: Immer tiefer gräbt sich die selbstbestimmte Frau in die primitive Welt, während Granik den Film vom Sozialdrama zum Noir-Krimi mutieren lässt. „Country noir“ ist der Kunstbegriff von Daniel Woodrell, Autor der gleichnamigen Romanvorlage, für seinen Stil.

Unberechenbare Erzählbewegungen

Woodrell lebt in den Ozarks, in seinen Texten verknüpfen sich nüchterne Alltagsbeschreibungen mit Genre-Bewegungen. Granik bleibt dem treu, ihre Adaption wirkt wie aus dem Land gewachsen. Handwerkliche Präzision trifft auf unberechenbare Erzählbewegungen, wie im „New Hollywood“ der 1960er/70er mit seinen moralisch geforderten Antiheldinnen und gewagten Dramaturgien zwischen Hoch- und Populärkultur. Distinktionsdünkel sind Granik fremd: Ohne mit der Wimper zu zucken und mit aller nötigen Härte führt sie die Geschichte an immer abwegigere, groteskere Orte, reist vom Konkreten in eine abstrakte Seelenlandschaft. Hin zur Erlösung, vor der man die Finsternis durchlebt haben muss.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2011)

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