Deutschland: Die Grünen auf der Welle

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Deutschland Gruenen Welle(c) REUTERS (ARND WIEGMANN)
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Deutschlands Grüne schwimmen auf einem Umfragehochvon 20 Prozent und rechnen sich gute Chancen für die Landtagswahlen im kommenden Jahr aus. Auf dem Bundesparteitag herrscht Euphorie.

Oben bleiben, oben bleiben!“ Laut skandiert eine Gruppe von grünen Delegierten diesen Slogan, schon am Beginn des Parteitags in Freiburg geht es turbulent zu. Sie sind aufgesprungen und haben eine Beratung über Anträge unterbrochen. Auf dem Podium klopft Parteivorsitzende Claudia Roth den Rhythmus fröhlich auf eine Flasche. „Oben bleiben“, das ist nicht nur der Schlachtruf der Gegner von Stuttgart 21, die den oberirdischen Kopfbahnhof erhalten wollen – unter ihnen die Grünen an vorderster Front. Es bezieht sich auch auf das Umfragehoch, das die Partei derzeit erlebt: satte 20 Prozent.

Oben bleiben, aber nicht abheben. Das ist eine schwierige Gratwanderung. Die Umfragewerte wirken euphorisierend, aber sie sind nur eine Momentaufnahme. Dessen ist man sich bei den Grünen bewusst. Und so gibt Parteichef Cem Özdemir – er teilt sich mit Roth den Vorsitz, beide wurden im Amt bestätigt – in seiner Rede vor den mehr als 500 Delegierten die Richtung vor: „Wir werden trotz der Thermik die Bodenhaftung nicht verlieren.“ Ähnlich hat schon Winfried Kretschmann, Spitzenkandidat der Grünen in Baden-Württemberg, formuliert: „Wir bleiben auf dem Teppich. Aber der Teppich fliegt.“

Dieses Bild, so Özdemir, werde das nächste Jahr prägen, in dem sechs Landtagswahlen anstehen. Zuallererst in Baden-Württemberg, wo die Grünen mit Kretschmann im kommenden März 57 Jahre CDU-Herrschaft beenden wollen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, nicht zuletzt weil der Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 den Grünen in die Hände spielt. Schon jetzt regiert die Partei in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Bremen und im Saarland mit; nach den Landtagswahlen hoffen die Grünen auf Regierungsbeteiligung – neben Baden-Württemberg auch in Berlin und Rheinland-Pfalz. Renate Künast, Fraktionsvorsitzende und Kandidatin in Berlin, wird in Freiburg bejubelt. Schon jetzt hat sie einen Berliner Bären an die Bluse angesteckt – in Grün, versteht sich.

Harmonie pur – an der Oberfläche. „Es herrscht Bombenstimmung“, sagt Notker Schweikhardt, Sprecher der Landesarbeitsgruppe Kultur in Berlin. „Diese Energie müssen wir jetzt mitnehmen und – soweit es geht – einlösen.“ Unbescheiden wollen die Grünen in Freiburg nicht auftreten, aber der Parteitag diene dennoch der Selbstbeweihräucherung, meint eine Delegierte. „Harmonie pur ist angesagt, es wird gekuschelt.“ Die Flügeltreffen von linken Fundis und Realos finden spätabends hinter verschlossenen Türen statt. „Wozu brauchen wir die noch?“, fragt Schweikhardt. Anti-Atomkraft, Gerechtigkeit, Teilhabe – das seien die unumstößlichen grünen Grundüberzeugungen, in denen sich beide Strömungen wiederfänden. „Wenn man auf Regierungsverantwortung hinarbeitet, wird es eben schwieriger: Da kann man nicht immer nur Nein sagen.“

Aber unter der Oberfläche gibt es natürlich Spannungen, Sorgen um das linke Profil der Partei, die sich immer mehr öffnet. Wo die Partei steht, wie sie sich definiert, das ist im Moment die große Frage für die Grünen. Wie sich der derzeitige Höhenflug erklären und fortsetzen lässt. Protestpartei, das war früher. Dagegen-Partei, so der Vorwurf vonseiten der Union, nur dort, wo es sinnvoll ist, etwa bei der Atompolitik.

Die Regierungsparteien wenden derzeit viel Zeit für „Grünen-Bashing“ auf, auch die SPD macht ein wenig mit, bedroht von der Stärke der Grünen. Was die Angegriffenen umso mehr freut, weil es laut Roth die „Gegnerschaft auf Augenhöhe“ zeigt. „Von der Lobbypolitik angegriffen zu werden ist uns eine Ehre“, sagt Özdemir. Und ergänzt, dass man „mit einer Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke und einer Absage an soziale Gerechtigkeit Schwarz-Grün getrost ausschließen kann“. CDU-Chefin Merkel hatte ihrerseits von Hirngespinsten gesprochen.

Keine Wohlfühlpartei.
Der Zeitgeist kommt den Grünen sicher entgegen, als Wohlfühlpartei sehen sie sich nicht. „Wir sind angeblich die Milieupartei oder die Wünsch-dir-was-Partei, die Latte-macchiato-Partei“, ruft Özdemir in die Menge, Letzteres ein Zitat von SPD-Chef Sigmar Gabriel. Aber „Filterkaffee ist auch keine Lösung“. Dafür erntet der Parteichef großes Gelächter.

„Grün ist nicht nur Soja und Solar“, der Kurs geht in Richtung Volkspartei. „Nicht wir rutschen wohin, sondern das Land hat sich verändert“, so formuliert es Künast. Parteitagsteilnehmer verweisen darauf, dass vieles, was früher als Spinnerei abgetan wurde, sich jetzt als realistisch erweise, etwa erneuerbare Energien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2010)

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