Begehren und Queerdenken

Begehren Queerdenken
Begehren Queerdenken(c) AP (Kevin Frayer)
  • Drucken

Hanna Hacker beschäftigt sich mit dem Wünschen und Begehren in der Entwicklungszusammenarbeit und dem Schreiben über den Körper.

Queer Entwickeln“, heißt das neue Buch von Hanna Hacker. Aber was bedeutet das überhaupt: „queer“? Und was hat das mit Entwicklungszusammenarbeit zu tun? Hacker ist Stiftungsprofessorin für sozial- und kulturwissenschaftliche Entwicklungsforschung am Institut für Internationale Entwicklung der Uni Wien, das ist jene Fachrichtung, bei der kürzlich das Bachelorstudium gestrichen wurde. Sie untersuchte, wie entwicklungspolitische Ansätze „gequeert“ werden können.

Der Begriff „queer“ bezieht sich eigentlich auf negative Eigenschaften und kommt vom deutschen „quer“: Früher bezeichnete er Schräges, Seltsames, etwas, das „nicht ganz richtig“ ist. Im 20. Jahrhundert wurde „queer“ als Schimpfwort für Männer benutzt, die Analverkehr mit anderen Männern hatten oder sich nicht verhielten, wie Männer sich zu verhalten hatten. In den 1990er-Jahren machte sich die lesbisch-schwule Bewegung den Begriff zu eigen und definierte ihn neu.

Der Ansatz der „queer politics“ griff das eigentliche Schimpfwort auf und stellt nun herkömmliche Konzepte von Geschlecht und Sexualität infrage. Die „Queer-Theorie“ beschäftigt sich mit der Frage, wie Geschlechterrollen in unterschiedlichen Gesellschaften definiert werden und wie mit Menschen umgegangen wird, die nicht der Norm entsprechen. Denn in manchen Kulturen gibt es mehr als nur zwei Geschlechter. Ein bekanntes Beispiel sind die Hijra, die in Indien mittlerweile offiziell als drittes Geschlecht anerkannt werden. Sie sind genetisch meist männlich, sehen sich aber als Frauen oder „Transgender“ (Menschen, die die Grenzen der Geschlechter überschreiten) und kleiden sich entsprechend. „Aber eigentlich muss man die Frage gar nicht nach Indien exportieren“, sagt Hacker. „Auch in Österreich ist das Selbst-Sprechen von Transgender-Personen, die nicht in das Modell der zwei Geschlechter passen, historisch jung und stellt die legistische Politik vor viele ungeklärte Fragen. Feministisch und queer heißt, darauf aufmerksam zu machen.“

Die Entwicklungspolitik beschäftige sich erst seit Kurzem mit sexuellen Rechten. Denn entwicklungspolitisches Handeln, so Hacker, konzentriere sich stark auf das „Opfer“, das hungert und Durst hat. Dabei werde vergessen, dass man es nicht nur mit armen Menschen zu tun hat, die Hilfe brauchen, sondern dass diese Menschen auch begehren und sexuelle Wesen sind wie alle anderen auch. Bei der Entwicklung von Förderprogrammen müsse außerdem mitgedacht werden, dass es Menschen gibt, die nicht in die Norm von zwei heterosexuellen Geschlechtern passen.


Der exotisierte Körper. Für ihr im Mandelbaum-Verlag erschienenes Buch (270 Seiten, 19.90 Euro) hat Hacker Ich-Erzählungen und Romane von Reisenden, Entwicklungsexperten und Wissenschaftlern untersucht, um zu sehen, aus welcher Position heraus sie über eigene und fremde Körper schreiben. Dabei hat sie herausgefunden, dass diese Position eine des weißen, heterosexuellen Mannes ist – und zwar nicht nur in der kolonialen Literatur. Dieser Perspektive passten sich auch nicht-weiße, nicht-heterosexuelle Autorinnen an. „Es scheint schwierig, andere Schreibweisen zu entfalten.“ Der Körper springe dem Leser förmlich aus dem Text heraus entgegen, plötzlich und unvermittelt, etwa wenn von weiblicher Genitalverstümmelung die Rede ist oder vom Schwitzen in der Hitze. „Hier wird deutlich, dass die Begegnung von globalem Norden und Süden den Körper nicht unberührt lässt“, sagt Hacker. Er stehe nicht einfach in der Fremde herum, sondern formiere sich, werde erst gestaltet und müsse geschützt werden in dieser nach wie vor oft stark exotisierten Welt.

Ausgehend von dieser Analyse der Bilder in der Literatur kommt Hacker zu dem Schluss, dass hinter der rationalen Planung in der Entwicklungszusammenarbeit des sogenannten Nordens mit dem „unterentwickelten“ Süden auch das Begehren eine Rolle spielt. Diese funktioniere nur auf der Basis des Begehrens, schreibt sie: „Vielleicht ist es das Einzige, was am Development funktioniert.“


Erotik und Kolonialismus. In globalen Zusammenhängen haben Projektionen von Sehnsüchten, von Erotik und Sexualität eine lange Geschichte und große Bedeutung. Man denke nur an den „Edlen Wilden“ oder an die Beschreibungen kolonialer Entdecker und Missionare: oftmals blumige Schilderungen eines üppigen Paradieses, bevölkert von leicht bekleideten Einwohnern mit vermeintlich freizügiger Sexualität. „Kolonialismus hieß mehr als die bloße Unterwerfung der anderen“, sagt Hacker. „Die Frage ist, was heute in der Entwicklungspolitik aus diesem kolonialen sexuellen Interesse geworden ist.“ Denn hinter der rationalen Planung stecke nach wie vor auch eine Sexualisierung der Körper: „Rassismus und sexuelles Interesse haben sich über die Jahrhunderte eng verbunden. Man kann wahrscheinlich auch über Entwicklungszusammenarbeit sagen, dass die, die ,entwickeln‘ wollen, dabei alles andere als frei sind von Rassismus und Projektionen exotischer Sexualität.“

Diskurs über Geschlechter

Die Queer-Theorie geht davon aus, dass die geschlechtliche und sexuelle Identität nicht „naturgegeben“ sind, sondern erst in sozialen und kulturellen Prozessen konstruiert werden. Im Diskurs wird genau unterschieden zwischen biologischem Geschlecht (englisch „sex“), sozialen Geschlechterrollen („gender“) und sexuellem Begehren („desire“).

Zu den Vordenkern dieser Kulturtheorie zählen Michel Foucault, Judith Butler und Michael Warner. Eine der Wurzeln liegt in den Aids-Kampagnen der 1980er-Jahre.
Die derzeit dominierenden Denkgebäude wurden in den 1990er-Jahren in den
USA entwickelt. Mittlerweile ist „Queerness“ in der Populärkultur angekommen: Immer mehr Künstler outen sich als „queer“ oder arbeiten mit diesem Konzept.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.