Jordanien: Wo sich 100.000 Flüchtlinge in ein Lager drängen

Jordanien. Im Camp Sataari
Jordanien. Im Camp Sataari(c) EPA (JAMALNASRALLH)
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Im Camp Sataari warten zehntausende Vertriebene auf das Ende des Krieges in ihrer syrischen Heimat. Das Lager ist überfüllt, Gerüchte heizen sich schnell auf und führen zu Zusammenstößen.

Eine unsichtbare Linie im Sand markiert die Grenze zwischen Krieg und Frieden, zwischen Tod und Leben, zwischen Syrien und Jordanien. Aber was heißt schon Frieden in Sataari, jenem Zeltlager zehn Kilometer südlich der syrischen Grenze, das zunächst Rettung und vermeintlichen Schutz für inzwischen weit mehr als hunderttausende Flüchtlinge verheißt? Ein Relativitätsproblem, das so genau niemand zu definieren weiß. Denn die Gräuel des Kriegs, aufgefrischt durch TV-Bilder und die Schilderung eigener Erlebnisse, haben sich auch jenseits der Front ins Gedächtnis eingebrannt. Auf Wandmalereien im Camp symbolisieren Panzer und Schwerter die physischen Wunden, die Traumatisierung nicht zuletzt einer Generation von Kindern.

Staubfahnen erheben sich über dem Zeltlager in der Wüste, in der alle paar Kilometer Kamele vom bescheidenen Besitz der Fellachen zeugen. Tanklaster spritzen die Durchfahrtsstraßen, die sich in der brütenden Sommerhitze sonst schnell in eine Staubhölle verwandeln würden. Waghalsig machen sich ein paar Buben einen Spaß daraus, zum Teil bloßfüßig den Lastern hinterherzurennen und auf die Hinterachse aufzuspringen. Für Kurzweil ist hier sonst nicht viel Platz. Auf Schubkarren transportieren die Älteren Matratzen, die Jüngeren dösen im Schatten.

Syrien Fluechtlinge
Syrien Fluechtlinge(C) DiePresse

Zwei Klassen von Flüchtlingen

Durch Sataaris Mitte zieht sich eine staubige schnurgerade Achse, eine übervölkerte „Promenierstraße“, die Scherzbolde Champs-Élysées nennen, weil sich links und rechts Geschäfte aneinanderdrängen: kleine Stände mit Obst, Softdrinks, Süßigkeiten, Zigaretten und Hühnerkäfigen – kurzum allem, was die Eintönigkeit im Flüchtlingslager aufhellt. Ein paar Geldbündel trennt die weniger Mittellosen von den Habenichtsen. Und die Dinare sind nicht das Einzige, was Missgunst schafft.

Derzeit fristen zwei Klassen von Flüchtlingen in dem überquellenden Lager ihr Dasein: eine Minderheit die bereits in einen der begehrten Container umgezogen ist, und eine Mehrheit, die weiter in den Zelten des Flüchtlingshilfswerks UNHCR dahinvegetiert, wie Um el-Gessed. Die Matriarchin des Clans hat in den neun Monaten seit ihrer Flucht ihr neues Zuhause mit goldfarbenen Pölstern ausgeschmückt, es mit einem Ventilator und einem TV-Apparat im Eck wohnlich gemacht, den saudische Wohltäter im Camp verteilt haben.

Via al-Jazeera kriecht der Krieg in die behelfsmäßigen Wohnzimmer in Sataari. Der Einschlag der Granaten, das Aufblitzen des Sperrfeuers, das Donnern der Panzerfäuste: Es ist ein beständiges Begleitgeräusch, das die Menschen nicht loslässt.

Umgeben von ihrem Clan aus Töchtern, Schwiegertöchtern und Enkeln, den Kleinsten auf ihrem Schoß, räsoniert Um el-Gessed über ihren Sohn, der für die Rebellen kämpft. Die Familie ist zerrissen. Während Väter und Söhne an der Front sind, und manche auch schon in Sicherheit, etwa irgendwo in Ägypten, rekrutiert sich die Bevölkerung im Lager zu drei Vierteln aus Frauen und Kindern. Sie bleiben, bei den Männern herrscht dagegen ein Kommen und Gehen.

Im Inneren des Zelts spannt sich eine Wäscheleine, in der Nacht zuvor hätten Diebe Spielzeug ihrer Enkeln gestohlen, klagt Um el-Gessed. Sie führt im Familienverbund der Frauen das große Wort, respektiert wegen ihres Alters und allein schon dadurch in ihrer Stellung herausgehoben. „Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht daran denken, endlich nach Hause zurückzukehren. Das ist, was uns Hoffnung gibt. Mein Körper verlangt nach Fisch, seit der Flucht habe ich keinen mehr gegessen. Wir sind es wirklich leid.“

Traumatisierte Kinder

Schlechte Nachrichten beschäftigen die Leute: „Erst kürzlich ist bei uns im Dorf ein Hagel von Granaten niedergegangen, es ist mir die ganze Nacht im Kopf herumgespukt. Die Kinder können teilweise nur mit Schlaftabletten einschlafen.“ In der Schule, erzählt eine Lehrerin, würden manche Kinder aggressiv auf das Geschehen reagieren, viele auch introvertiert.

So gut wie möglich versuchen die Campverwaltung und die Hilfsorganisationen, so etwas wie einen Alltag in Sataari aufrechtzuerhalten: eine feste Struktur, die den Flüchtlingen angesichts des stetigen Zustroms Halt gibt.

Kilian Kleinschmidt fällt als provisorischem Chef des Lagers die Rolle des Krisenmanagers zu. „Ich bin hier der Bürgermeister, der Boss.“ So stellt er sich vor. Dem 50-jährigen Deutschen, einem Schrank von einem Mann in Safari-Outfit, eilt ein legendärer Ruf voraus. Raumgreifend berichtet der „Löwe der Wüste“, der in Pakistan, Somalia und im Sudan UN-Hilfsmissionen geleitet hat, vom Ungemach im Camp: davon, dass die Menschen Strom anzapfen, Materialien und Zelte verschwinden, sich eine Mafia etabliert hat, die das kleine Geschäftsleben kontrolliert. „Es gibt hier eine Bronx“, sagt er in Anspielung auf das Kriminellenghetto im New York der 1970er-Jahre. „Mogadischu war ein Spaziergang gegen das, was ich hier erlebe“, erklärt er mit der Lust an der Zuspitzung.

Tatsächlich entzünden sich in Sataari immer wieder Unruhen – kein Wunder angesichts der bedrängten Verhältnisse und der Fülle an Zeit, die es totzuschlagen gilt. Es reicht der kleinste Funken. Das Gerücht von der Entführung einer Minderjährigen löste unlängst Proteste aus. Steine flogen, der Mob prügelte einen Polizisten halb tot. Der Mann verlor sein Auge. An Gerüchten herrscht kein Mangel in dem Lager – darüber, dass Assads Spione das Camp unterwandern oder dass heiratswillige Jordanier gegen eine geringe Mitgift um junge Mädchen feilschen.

Angst vor Zustrom von Syrern

Allmählich bekommt es auch das Gastland mit der Angst zu tun. Das Haschemitenreich Jordanien hat reichlich Erfahrung mit Flüchtlingen. Nach der Gründung Israels überschwemmten Palästinenser den Wüstenstaat, sie stellen heute die Mehrheit. Und während des Irak-Kriegs galt Jordanien erneut als erster Zufluchtsort. Was, wenn Syrien nicht zur Ruhe kommt? Wenn der Zustrom nicht abreißt? Neulich sperrte das Land anlässlich einer Friedenskonferenz sicherheitshalber seine Grenzen zu Syrien. Doch Jordanien lässt sich nicht so einfach abriegeln, das Land kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Das weiß auch König Abdullah, und darum kalmiert er, wo immer es geht.

Auf einen Blick

Das Hilfswerk Austria unterstützt mit derAktion „Wir bauen Leben“ die syrischen Flüchtlinge im Libanon. Im Slum von Beirut werden Hygieneartikel und Güter des täglichen Bedarfs verteilt. Sozialarbeiter und Therapeuten kümmern sich um schwer traumatisierte Kinder, die aus Syrien flüchten mussten.

„Die Presse“ steht der Aktion als Medienpartner zur Seite. In der heutigen Ausgabe der „Presse“ finden Sie einen Zahlschein, mit dem Sie „Wir bauen Leben“ unterstützen und den syrischen Flüchtlingen helfen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2013)

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