Pop

Hip Hop: Die Reime des Bösen

(c) Universal
  • Drucken

Seine provokanten Texte und harten Beats machten ihn zum Schrecken der Tugendwächter und zum Helden der Jugendzimmer: Der Berliner Rapper Sido über seine neue CD und die Grenzenlosigkeit der Kunst.

Am Anfang war der Mythos – und seine Kulisse: das Märkische Viertel, der dreckige Hinterhof von Berlin. Bröckelnde Plattenbauten, behaust von Hartz-IV-Empfängern und Kleinkriminellen. Mitten im Block: der Schulabbrecher Paul Würdig. Pauls Freunde sind Dealer, Huren und Diebe. Von ihnen lernt er die Sprache der Schlagringe und Springmesser.

Doch der Straßenjunge hat ihnen eine Waffe voraus: eine große Klappe. Sie ist seine einzige Chance, er nutzt sie. Er wird Rapper, nennt sich nun Sido, presst in Rhythmen und Reime, was seine Leute nicht artikulieren können: Frust, Aggression, grimmigen Stolz auf das Anderssein. Aber auch die Ekstase der Gosse, kleine Fluchten in Sex und Drogen: „Wir können mit beschissenen Situationen einfach besser umgehen.“

Vor fünf Jahren schrieb Sido eine lakonische Hymne auf sein Viertel, gespickt mit herben Episoden und derbem Vokabular. Und das Wunder geschah, bald schon skandierte ganz Deutschland den Refrain von „Mein Block“: „Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt reicht vom ersten bis zum sechzehnten Stock.“ Sidos Sprüche wurden sprichwörtlich, die höchste Ehre, die einem rappenden Großmaul widerfahren kann. Sein Gesicht versteckte er hinter einer Maske aus Metall. Nur seine Texte sollten für ihn sprechen, Personenkult blieb ihm noch fremd. Doch seine erste Platte, „Maske“ verkaufte sich 250.000 Mal. Sido wurde zum Massenphänomen.

Verbotene Lieder für Halbstarke

Seine Klientel sind „Bravo“-Leser aus den Einfamilienhäusern des Mittelstands. In ihren Ohren klingen seine Texte wie die Verheißung eines anderen, wilden, gefährlichen Lebens. Auf den Schulhöfen der Republik wurde der Ton rauer. Mädchen wurden als Fotzen und Schlampen tituliert. Besorgte Eltern schlugen Alarm: Ein Rattenfänger mit Beatbox statt Flöte verherrliche da die Gewalt. Die höchsten Wellen schlug ein Lied, das sich der Analpenetration in allen Facetten widmet. Doch auch andere Songs wurden diskutiert, zensuriert, indiziert – was freilich Sidos Ruhm nur mehrte.

Für seine zweite Platte „Ich“ legte er die Maske ab, gab mehr von sich preis und säuselte sich mit Gefühlvollem über Mama, Sohn und Freundin auch in die Herzen der weiblichen Jugend. Die Klingelton-Industrie rieb sich die Hände. Doch seiner Plattenfirma Aggro Berlin blieb Sido treu, was ihn mit Stolz erfüllt: „Ich bin der erste Musiker in Europa, der mit einem Independent-Label viermal Gold gemacht hat.“ Aggro Berlin wurde zum Drehkreuz des deutschen Gangsta-Raps. In den USA hatte Eminem vorgemacht, dass auch weiße Rabauken springen können, nun wurde das Märkische Viertel zur Bronx. Die Bugwelle des Erfolgs spülte Bushido, Fler und Azad in die Charts.

Doch der „Goldjunge“ blieb das Original. Auch noch, als er längst Dauergast in TV- Shows war, sich von Stefan Raab und Oliver Pocher von der Kunst- zur Witzfigur degradieren ließ. Während ihn die meisten Rapper als Pionier respektieren, hat sich die engere Hiphop-Community abgewandt. 2005 zeigten sie dem „Verräter“ auf einem Festival den Stinkefinger, bewarfen in mit Bierflaschen. Dass sein Label im November einen Vertriebsdeal mit dem Major Label Universal schloss, steigert ihre Verachtung.

Längst wohnt Sido in einer besseren Gegend. „Aber ich hänge immer noch im Märkischen Viertel herum. Ich komme nur mit meinen dunklen Gestalten gut aus, weil ich sie verstehe, ihre Freundlichkeit wie ihre Hinterhältigkeit.“ Das ist vielleicht nicht wahr, zumal das „MV“ nie die Gosse in Reinkultur war, die Sido noch heute besingt. Aber man würde es ihm gerne glauben.

Lieder „wie schwere Steine im Magen“

Sein neues Album, das ab 30. Mai in den Regalen steht, hat der 28-Jährige in einem dreckigen Keller in Leipzig aufgenommen, umschwirrt von Fliegen, als wollte er durch eine magische Geste seine Anfänge beschwören. „Die Maske und Ich“ sollte eine Synthese werden aus der rotzigen Attitüde des ersten Albums und der düsteren Nabelschau des zweiten, dessen Lieder, so Sido, „wie schwere Steine im Magen lagen“.

Bei manchen Tracks gelingt ihm das recht gut, nicht aber bei der Single „Augen auf“, in der er selbst den Zeigefinger gegen die Tugendwächter erhebt: Die nachlässigen Eltern seien schuld, wenn ihre Kinder verkommen. Das klingt absurd aus dem Mund von einem, der Halbwüchsige mit Gewaltfantasien versorgt. Doch es passt in Sidos Welt. Er ist selbst ein Kind, das wartet, dass ihn jemand zurückpfeift – und sei es einer von ganz oben: „Gott, vergib mir meine Sünden, ich hab viel Scheiße gebaut“, heißt es im Song „Testament“.

Solange man ihn lässt, spielt er mit Tabus. Er beruft sich auf den Jargon der Rapper, bei deren „Battles“, den inszenierten Wortgefechten, deftige Beleidigungen und spielerische Drohungen zum guten Ton gehören. Diesen heiklen Freiraum will er nutzen, nicht als Kunstfigur, sondern als Künstler: „Ich bin ein moderner Dichter. Schau dir unseren Berliner Maler Zille an. Der durfte vor 100 Jahren nackte Kinder malen, und niemand hat ihn als Pädophilen beschimpft. Künstler sind dazu da, Grenzen zu überschreiten. Damit machen sie die Gesellschaft offen für das Neue.“

LEXIKON: GANGSTA-RAP

Ein Genre der Rapmusik, das Ende der 1980er in den schwarzen Ghettos der US-Westküste entstand. Der „Gangster“ beschrieb das Lebensumfeld einer Jugendgang: Drogenhandel, Zuhälterei, Reibereien mit Rivalen und der Polizei. Gangsta-Rap dominierte den Hiphop der 90er, Erfolg und Kontroverse schaukelten sich hoch. Kritiker warfen den Rappern vor, Gewalt und Drogen zu verherrlichen, Frauen und Schwule zu verachten und Vorurteile zu schüren.

Hart und düster war der Musikstil anfangs, das wich später poppigen Samples und tanzbaren Beats. Die Rapper glorifizierten ihren Erfolg und schmückten sich mit Goldketten, großen Autos und schönen Frauen.

Die bekanntesten Gangsta-Rapper waren Ice T, Snoop Doggy Dog, Public Enemy, Ice Cube, Dr. Dre und Puff Daddy. Ihre Attitüde und Musik inspirierte auch weiße Künstler wie Eminem. In Deutschland schaffte zuletzt die Berliner Szene um Sido und Bushido den Sprung vom Untergrund in die Charts.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.