Die Kultur der Vergewaltigungen in Indien beenden

Kultur Vergewaltigungen Indien beenden
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Mit dem Tod einer jungen Frau nach einer Vergewaltigung durch sechs Männer ist eines der größten Probleme der indischen Gesellschaft offenbar geworden.

Das Verbrechen ist unfassbar. Eine 23-jährige Medizinstudentin ist tot, zwölf Tage nachdem sie über eine Stunde lang von sechs Männern in einem Bus vergewaltigt worden ist, der auf Hauptstraßen der indischen Hauptstadt unterwegs war. Ihre inneren Verletzungen durch die Eisenstange, die die Angreifer benutzten, waren so schwer, dass Ärzte in dem Versuch, ihr Leben zu retten, den Darm entfernen mussten.

Die Inder, so scheint es, haben genug. Auf Dutzenden großen und immer wütenderen Demonstrationen fordern sie von der Regierung, die Sicherheit von Frauen zu gewährleisten und Vergewaltiger endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Die Behörden haben zwar versucht, die Proteste nicht eskalieren zu lassen, indem sie das Zentrum von Neu-Delhi abgeriegelt und im Rest der Stadt den Verkehr eingeschränkt haben, jedoch ohne Erfolg. Nach dem Tod eines Polizisten wurde in die Menge gefeuert, wodurch ein Journalist, Bwizamani Singh, getötet wurde, was eine Rüge von Reporter ohne Grenzen zur Folge hatte.


Praxis ist: Die Opfer sind schuld. Den scharfen Protesten liegt nicht einfach die hohe Vergewaltigungsrate in Indien zugrunde. In einer leidenschaftlichen Rede hat Kavita Krishnan, Sekretärin der indischen Frauenorganisation All India Progressive Women's Association, ausgesprochen, worum es bei den Protesten wirklich geht: um die gängige Praxis in Indien, die Opfer von Sexualverbrechen selbst dafür verantwortlich zu machen. Behörden und Polizei, so Krishnan, haben erst kürzlich wieder darauf hingewiesen, dass die meisten Vergewaltiger in Indien nicht verfolgt werden können, weil sie, wie ein Beamter es ausdrückte, der Frau bekannt seien. Andere Beamte haben angedeutet, dass die Opfer selbst durch die Verwendung ihrer Bewegungsfreiheit die Verbrechen „provozierten“.

Diese Rückkehr zu präfeministischen Diskursen ist nicht auf Indien beschränkt. In Italien wird eine ähnliche Debatte darüber geführt, ob Kleider und Verhalten von Frauen zur Vergewaltigung aufforderten. Sogar in Schweden klagen die Aktivisten, dass Vergewaltigungen, bei welchen die Frauen ihre Angreifer kennen, nicht verfolgt werden, weil die Opfer stigmatisiert würden.

Krishnan beklagte die Tatsache, dass die Verurteilungsrate bei Vergewaltigungsprozessen in Indien von 46Prozent im Jahr 1971 auf heute nur 26Prozent gefallen ist (hier muss darauf hingewiesen werden, dass es immer noch eine höhere Rate als im Vereinigten Königreich, in Schweden und in den Vereinigten Staaten ist). Die Tatsache, dass die meisten Vergewaltigungen von Männern begangen werden, die dem Opfer bekannt sind, „sollte es umso einfacher machen, den Vergewaltiger zu fassen“. Stattdessen wird Frauen, die zur Polizei gehen, geraten, sie sollten keine Anzeige erstatten. Unbekannte Menschen finden sich plötzlich aus dem Nichts auf der Wache ein, die der Frau „erklären“, warum dieser Ratschlag richtig ist.


Pfefferspray – „zur Abschreckung“. Krishnan betont, das Problem beginne ganz oben. Mitten in den Protesten hat der Polizeipräsident von Neu-Delhi Öl ins Feuer gegossen, als er vorgeschlagen hat, Frauen sollten doch Pfeffersprays bei sich tragen, um mögliche Vergewaltiger abzuschrecken. Bei einer Pressekonferenz sagte er außerdem, Frauen sollten nicht ohne männliche Begleitung umherschweifen. Andernfalls seien sie selbst schuld, wenn ihnen etwas passierte.

Die Proteste werden nach dem Tod des Opfers fortgesetzt und Regierungsvertreter betonen, es seien Maßnahmen notwendig, um die „Sicherheit und den Schutz“ von Frauen zu gewährleisten. Aber das Wort „Sicherheit“ in Bezug auf Frauen, so Krishnan, „ist viel zu viel verwendet worden“. Indische Frauen hören es bereits ihr ganzes Leben. „Es bedeutet“, sagt sie, „,Benimm dich. Geh zurück ins Haus. Zieh dir bestimmte Kleider nicht an. Lebe deine Freiheit nicht aus,...‘ Eine ganze Palette an patriarchalischen Gesetzen und Institutionen schreiben uns vor, was wir zu tun und zu lassen haben, damit wir ,sicher‘ sind.“

Die sechs Männer, die der Vergewaltigung im Bus angeklagt werden, wurden festgenommen und des Mordes angeklagt. Ferner hat die Regierung eine Untersuchung angeordnet, wie mit Vergewaltigungsfällen umgegangen wird.

Kritiker der Regierung sind allerdings hinsichtlich der offiziellen Absichten skeptisch, schließlich werden pro Jahr in der Hauptstadt lediglich 600 Vergewaltigungen angezeigt, die Dunkelziffer liegt vermutlich in den Tausenden.

Die Wahrheit hinter den Protesten findet man auf Blogs, auf denen junge indische Männer und Frauen klagen, dass Reisebücher Frauen immer vor weitverbreiteter sexueller Belästigung warnen und ihnen raten, sich in Gruppen zu bewegen.

Filme, Religion, Musik und die Frauen selbst werden für die männliche Aggression gegen Frauen verantwortlich gemacht, die Vergewaltiger selbst aber werden nicht zur Verantwortung gezogen.

Eine Kultur aber, die die Männer „verhätschele“, wie es ein Blogger ausdrückt, unterstütze die Vergewaltigungskultur.


Den Zusammenhang sehen. Der Zusammenhang zwischen Vergewaltigung, männlichen Privilegien und der Herabwürdigung der weiblichen Sexualität war einer der wichtigsten Erkenntnisse der Feministinnen in den 1970ern – eine Erkenntnis, von der sie glaubten, sie sei erfolgreich in die kulturelle Debatte um Vergewaltigungen und in die Gesetzgebung eingeflossen. In Indien wie in Italien, Schweden und auf der ganzen Welt werden Frauen und Männer, die die Bewegungsfreiheit und die Unversehrtheit von Sexualverbrechen unterstützen, dazu gezwungen, diesen Kampf noch einmal zu führen. Es bleibt zu hoffen, dass die Proteste in Indien den Westen zu einer Aufgabe seiner selbstzufriedenen Haltung inspirieren werden.


Sicherheit nur für „brave Mädchen“.
In den Entwicklungsländern sind Frauen besonders gefährdet. Durch ihre Bejahung von Selbstständigkeit und Mobilität riskieren sie, mit einer etablierten Exekutive und mit Medien in Konflikt zu geraten, die Frauen immer noch durch die präfeministische Brille betrachten: „Brave Mädchen“, die zuhause bleiben, haben nichts zu befürchten, „böse Mädchen“ dagegen, die ihr Recht auf öffentlichen Raum beanspruchen, sind Freiwild.

Die Autorin

Naomi Wolf
ist politische Aktivistin und Sozialkritikerin, zuletzt erschien von ihr „Vagina: Eine Geschichte der Weiblichkeit“.

Text © Project Syndicate 2012. Aus dem Englischen von Eva Göllner-Breust

Project Syndicate

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.01.2013)

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