Der Ansturm auf die Sozialmärkte

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Am Montag eröffnet in Hernals der vierte Sozialmarkt Wiens, vor dem Markt in Neubau warten täglich Dutzende Kunden vor Geschäftsbeginn auf Einlass. Die Philosophien der Anbieter sind dabei recht unterschiedlich.

Wien. Obwohl die alte Dame früh da war, hat es nur für einen Platz in der Mitte der Schlange gereicht. Etwa 30 Menschen stehen vor ihr, weitere 30 hinter ihr. Dabei ist sie schon vor einer Stunde gekommen. Milch will sie kaufen. „Drei Mal war ich schon hier, und nie gab es Milch“, sagt sie, auf dem Kopf eine weiße Strickhaube, in der Hand eine Einkaufstasche.

Neustiftgasse 73: Hier befindet sich der Sozialmarkt des Wiener Hilfswerks, hier warten an diesem Tag trotz Regens Dutzende auf Einlass. „So ist das jeden Tag bei uns“, sagt Marktleiterin Angela Proksch unbeeindruckt.

Ein Glück, dass der Eingangsbereich der ehemaligen Druckerei so groß ist, dass es eine Rampe gibt, über die Mütter und Väter auch mit Kinderwägen ohne Schwierigkeiten den Eingang erreichen. Als der Markt um 10 Uhr öffnet, werden diese zuerst hineingelassen, ebenso wie Schwangere und Behinderte; die anderen Wartenden lassen die Ordner erst nach und nach durch, damit sich die Einkaufswägen nicht in den Gängen verkeilen.

„Es ist wie 1947, als wir als Kinder in der Schlange standen“, sagt die alte Dame. Sie ist gut gekleidet, entspricht so überhaupt nicht der gängigen Vorstellung einer Armen. Aber wer tut das hier schon? Auch die jüngere Frau neben ihr sieht auf den ersten Blick nicht so aus: eine arbeitslose Diplomingenieurin, auch sie will anonym bleiben, geschminkt, mit pelzbesetzter Jeansjacke; man könnte meinen, sie sei auf dem Weg ins Kino, nicht in den Sozial-Supermarkt.

10.000 registrierte Kunden

Stumm wartet man in der Reihe. Die eigene Bedürftigkeit ist nichts, worüber man gerne spricht – und noch weniger etwas, von dem andere Menschen erfahren sollen. Statt der Aufmerksamkeit der Medien wünscht sich die Diplomingenieurin lieber ein breiteres Warenangebot. „Denn die guten Sachen sind immer so schnell weg“, sagt sie.

Die guten Sachen: Dazu gehören das Brot, von dem jeder einen halben Kilo und zwei Stück Gebäck gratis mitnehmen darf, Milchprodukte – die ersehnte Milch der alten Dame –, Obst und Gemüse, Waschmittel und Babywindeln.

Um im Sozialmarkt des Hilfswerks einzukaufen, darf man nicht mehr als 893 Euro im Monat verdienen. Im Vinzi-Markt in der Wallgasse ist die Obergrenze mit 800 Euro niedriger. Und in Alexander Schiels „Sozialmarkt Wien“ – einen betreibt er in Favoriten, der zweite eröffnet heute in der Kalvarienberggasse – sind es 900 Euro.

Dass die Nachfrage groß ist, darüber sind sich die Betreiber einig. Von 80.000 Sozialhilfeempfängern in Wien spricht Hilfswerk-Sprecherin Martina Goetz und glaubt, dass in der Bundeshauptstadt Bedarf für bis zu acht Märkte wäre.

Kunden gibt es für die derzeit vier Märkte jedenfalls genug – und es dürften noch mehr werden. Derzeit gebe es viele neue Interessenten, berichtet Alexander Schiel: „Es sind Leute, die Angst um ihren Job und sich vorher geniert haben. Doch jetzt sehen sie die Notwendigkeit zu kommen.“ Im ersten Sozialmarkt in Favoriten sind mittlerweile 10.000 Menschen registriert; in der Neustiftgasse hat man nach einem Monat schon 3000 Einkaufspässe vergeben und zählt 700 Einkäufer täglich. Alleinerzieherinnen, Migranten und alte Menschen stellen die Hauptkundschaft. Manche von ihnen gehen in mehreren Sozialmärkten einkaufen: Alexander Schiel schätzt ihre Zahl auf zehn Prozent. Er äußert Verständnis für die „Sozialmarkttouristen“: „Es gibt nicht immer in allen Märkten alles, deshalb schauen sie zu mehreren Läden.“

Gemüse meistens ausverkauft

Denn das Warenangebot ist mitunter ein Problem – genauer gesagt der Mangel an Angebot: Die meisten Sozialmärkte sind von kostenlosen Lieferungen der Supermarktketten abhängig und kaufen aus Prinzip keine Ware zu. In den Weiten der Regale des Markts in der Neustiftgasse gibt esetwa stapelweise Meersalz und Vanillepudding um 50 Cent, eine reiche Auswahl an Gewürzen, zehn Cent das Päckchen. In der Gemüseabteilung sieht es dafür traurig aus: Ein paar Paprika, Rettiche und Kartoffeln liegen in den Körben, mehr nicht.

Doch auch in dieser Frage gehen die Sozialmärkte unterschiedliche Wege: Schiel möchte seinen Kunden ein größeres Sortiment bieten. „Wie in einem normalen Lebensmittelladen, nur billiger“, lautet sein Konzept. Dafür kauft er schon mal Produkte zu einem Symbolpreis – was „Soma und Partner“, der Verband, dem die meisten Sozialmärkte angehören, ablehnt. Andere Sozialmärkte würden zudem schon lang abgelaufene Produkte verkaufen, kritisiert Schiel. „Das bringt uns in Misskredit“, glaubt er.

Kein Glück an diesem Morgen hatte jedenfalls die alte Dame. Im Sozialmarkt gab es keine Milch, nicht um 10, nicht um 10.30 Uhr. Es war einfach keine Lieferung gekommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2008)

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