Ulrich Beck: Ein Soziologe mit Spürsinn für Relevantes

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Er warnte vor der „Weltrisikogesellschaft“, er sah die Schattenseiten der „schönen neuen Arbeitswelt“: Ulrich Beck, ein herausragender Zeitdeuter der Gegenwart, ist mit 70 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.

Großintellektuelle und Welterklärer, die als geistige Instanzen Orientierung verschaffen – gibt es sie noch? An ihre Stelle sind quicke Problemdiagnostiker und Thesenschmiede getreten, die Fernsehtalkshows für die ultimative Arena gesellschaftspolitischer Intervention halten. Bei ihnen vermisst man den „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“, die wichtigste Aufgabe von Intellektuellen, so der Frankfurter Sozialphilosoph Jürgen Habermas. Der zu Neujahr überraschend verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck gehört neben Habermas selbst zu den herausragendsten Zeitdeutern der Gegenwart. Seine Stichwörter zur weltgesellschaftlichen Situation hatten genau jenen Spürsinn für Relevantes, den Habermas einfordert.

Der 1944 in Pommern geborene Beck blieb in seiner akademischen Karriere dem Soziologischen Institut der Universität München treu, 2009 wurde er emeritiert. Da war er durch seine prägnanten Begriffe zum Grundlagenwandel moderner Gesellschaften bereits einer der meistzitierten Soziologen der Gegenwart geworden. 1986 gelang sein großer Wurf, der soziologische Weltbestseller „Risikogesellschaft“ wurde in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Das war das Buch der Stunde: Die Fortschritts- und Wachstumsideologie siechte bereits dahin, Beck stellte die Frage, wie man leben könne, wenn die bestehenden Sicherungsmechanismen aufhören zu funktionieren und man unter Unsicherheit handeln müsse, wenn das Nichtwissen besorgniserregend groß wird und man unüberschaubaren Interdependenzen ausgeliefert ist. Imaginierte Katastrophen der Zukunft prägen unser Denken, wir befinden uns in einem ständigen Präventivkrieg, jeder muss sehen, wie er mit den globalen und persönlichen Risken zurechtkommt. Wenige Wochen nach Erscheinen des Buches passierte das Atomunglück von Tschernobyl. Wuchtiger wurde noch selten eine These bestätigt.

2007 erweiterte Beck seine Grundthese: Die „Weltrisikogesellschaft“ hat die Merkmale Entgrenzung, Unkontrollierbarkeit, Nichtkompensierbarkeit und Nichtwissen. Die großen Krisen der vergangenen Jahrzehnte scheinen diesem Drehbuch zu folgen: Fukushima und das Kernkraftrisiko, das Finanzrisiko, der 11. September, der Terror, das digitale Freiheitsrisiko. „Jedes Mal wurde der bisherige Erwartungsrahmen überholt“, bilanzierte Beck 2011, jedes Mal komme es zu einem Ereignis, an dem diese global interdependenten Risken weltöffentlich werden und als „räumlich, zeitlich und sozial entgrenzte Katastrophen erfahren werden, Nebenfolgen der Erfolge der Modernisierung, die rückwirkend die bisherigen Institutionen der Modernisierung infrage stellen“ (2013 in der „FAZ“).

Die Risikogesellschaft erfordert internationale Zusammenarbeit, Beck plädierte daher leidenschaftlich für den Kosmopolitismus, den Wandel von einer nationalstaatlich geprägten Gesellschaft hin zu einer nationenübergreifenden Gemeinschaft. Im Extremfall hängt das Überleben aller vom gemeinsamen Handeln ab. Daher war Beck ein leidenschaftlicher Vertreter des europäischen Einigungsprozesses. Die neoliberale Ideologie des freien Markts laufe auf einen Wettbewerb von Staaten und Systemen hinaus, dagegen begann Beck leidenschaftlich anzuschreiben: „Die marktliberalen Ökonomen werden viel zu nett behandelt.“

„Brasilianisierung des Westens“

In „Schöne neue Arbeitswelt“ (1999) prägte er für die neuen prekären Arbeitsverhältnisse, für den „Einbruch des Diskontinuierlichen, Flockigen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft“ den Ausdruck „Brasilianisierung des Westens“. Wie in den Entwicklungsländern werde bald jeder Zweite „brasilianisch“ arbeiten, denn „niemals waren die Arbeitenden so verletzlich wie heute“, sie seien abhängiger denn je, die Regeln des Arbeitsmarkts seien für viele unentzifferbar geworden. Da Vollbeschäftigung eine illusionäre Utopie geworden sei, plädiere er für eine von der Allgemeinheit finanzierte Grundsicherung. Arbeit als unersetzbarer Modus der Integration müsse überdacht, Demokratie und Freiheit auch jenseits der Vollbeschäftigung entwickelt werden. Nach der Auflösung kollektiver Identitäten und gesellschaftlicher Solidaritäten ist der Einzelne zunehmend gefordert, seinen Lebenslauf selbst zu organisieren, das meinte Beck, wenn er von Individualisierung sprach. Er meinte damit nicht die Vereinzelung und Beziehungslosigkeit des freischwebenden Individuums, kulturkonservatives Lamento lag ihm fern, sondern Lebensformen, „in denen die Individuen ihre Biografie selbst herstellen, inszenieren, zusammenschustern müssen“.

„Kinder der Freiheit“

Die Auswirkungen auf der Beziehungsebene fasste er in Publikationen mit seiner Ehefrau, Elisabeth, zusammen: Ehe und Familie würden „zu einem Jonglieren mit auseinanderstrebenden Biografien, für deren Zusammenhalt es kein Patentrezept mehr gibt“. Gemeinsamkeit könne nicht länger verordnet werden, sie müsse abgesprochen, ausgehandelt, begründet, erlebt werden. Er sah darin auch das Potenzial für mehr Freiheit in der jungen Generation, sich den starren Regeln früherer Generationen zu entziehen („Die Kinder der Freiheit“, 1997).

Unumstritten war Beck nie, man nannte ihn „Rastelli der Wissenschaft“, der begriffliche Nebelbomben werfe. Seine Lust an Interventionen wuchs im Lauf der Zeit, etwa, wenn er Angela Merkels europäische Machtpolitik kritisierte: Er nannte sie die Methode „Merkiavelli“, ein „machtpokerndes Jein“, das die von Deutschlands Krediten abhängigen EU-Länder ihre Unterlegenheit spüren lasse und ohne formelle Befehlsgewalt eine De-facto-Hegemonie über Europa erziele.

Der Theologe Friedrich Schorlemmer bescheinigte Beck einmal eine „zu 51 Prozent positive Haltung“. Tatsächlich, so sah Beck mit seinem „kosmopolitischen Blick“ (so der Titel eines seiner Bücher) die Probleme dieser Welt: Sie sind zu bewältigen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2015)

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