Amy Chua: Mütter, "Monster" und Maschinen

Chua Muetter Monster Maschinen
Chua Muetter Monster Maschinen(c) AP ((CC) Larry D. Moore)
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Militärischer Erziehungsdrill kontra Kuschelpädagogik: Die selbst ernannte "Tigermutter" Amy Chua, eine US-Chinesin, hat mit ihrem provokanten Erziehungsbuch eine Kulturkampfdebatte ausgelöst.

Am Horizont erhebt sich die Golden Gate Bridge in Rostrot aus dem milchigen Dunst über der Bucht von San Francisco, das Tor zum Pazifik und nach Asien. Und doch könnte man meinen, Berkeley sei der östlichste Außenposten Chinas. Chinesische Studenten aller Schattierungen – aus Schanghai, Hongkong, Taiwan und aus der amerikanischen Diaspora – tummeln sich rund um das Sather Gate, den Haupteingang zum Uni-Campus, wo die Studentenrevolte der 1960er-Jahre und die Proteste gegen den Vietnamkrieg ihren Ausgang genommen haben.

Kinder und Kindeskinder von Immigranten aus China, Indien oder Korea sind dabei, die US-Elite-Unis an der Ost- und Westküste zu überrollen. Schlag ein Uhr mittags haben sich in Berkeley, der linksliberalen Hochburg, neben dem grünen Torbogen wie jeden Wochentag gut zwei Dutzend asiatischstämmige Studenten zu einem Halbkreis zusammengefunden. Als das Glockengeläut des Campanile verhallt ist, hebt der Gesang des Chors an.

Nebenan, in seinem Kellerbüro in der Fakultät für Politikwissenschaft, sitzt Professor Jack Citrin und erzählt Anekdoten aus dem akademischen Alltag. „Da war neulich ein Student asiatischer Herkunft bei mir und flehte mich an: ,Professor, kann ich bitte noch einmal zur Prüfung antreten? Mit einem B+ kann ich mich nicht zu Hause anschauen lassen.“ Ein B+ entspricht im US-Notensystem einer Zwei plus.

Auch im Hause der Chuas war die Note B verpönt: B – das stand für Blamage. Für die Eltern, chinesischstämmige Einwanderer aus den Philippinen, zählte, wenn nicht schon ein A+, dann wenigstens ein A. Der Vater, der regelmäßig bis drei Uhr früh gebüffelt und sich so zum Professor für Elektrotechnik und Informatik in Berkeley hochgearbeitet hatte – und mehr noch die Mutter – spornten ihre vier Töchter von klein an zu Hochleistung an. Als Amy, die Älteste, einmal bei einem Geschichtewettbewerb an ihrer Highschool in seinem Beisein nur als Zweitbeste abschnitt, fauchte Leon Chua sie an: „Blamiere mich nie wieder so.“

Alle vier sind „Overachiever“ geworden, mustergültige Streber. Drei von ihnen studierten an den Kaderschmieden der Ivy-League an der Ostküste: Amy und Katrin in Harvard, Michelle in Yale. Amy avancierte zur Jus-Professorin in Yale, Katrin zur Medizin-Professorin in Stanford. Und Cynthia, die Jüngste, die mit Down-Syndrom auf die Welt gekommen war, brachte es bei den Special Olympics zu zwei Goldmedaillen im Schwimmen.


Obsessiver Drill. All das schildert Amy Chua in ihrem Buch, das in der am Freitag erschienenen deutschen Übersetzung den zahmen Titel „Die Mutter des Erfolgs“ trägt, so ganz nebenbei. Der Untertitel lässt sich noch recht harmlos an, beschreibt aber ironisch-pointiert den Handlungsbogen: „Das ist eine Geschichte über eine Mutter, zwei Töchter und zwei Hunde. Es geht um Mozart und Mendelssohn, das Klavier und die Geige, und wie wir es bis in die Carnegie Hall geschafft haben. Es sollte eine Geschichte über chinesische Eltern sein, die ihre Kinder besser erziehen als westliche Eltern. Stattdessen geht es um einen bitteren Kultur-Clash, den flüchtigen Glanz des Ruhms und wie ich von einer Dreizehnjährigen gedemütigt wurde.“ Vom Vater ist bewusst kaum die Rede. Jed Rubenfeld, Jus-Professor in Yale wie seine Frau, erzogen in liberaler jüdischer Tradition und im Nebenberuf erfolgreicher Krimiautor, hat gegen die ursprünglich vorgesehene tragende Nebenrolle Einspruch erhoben.

Der martialische Originaltitel „Battle Hymn of the Tiger Mother“ – die Schlachthymne der Tigermutter – trifft den Ton des Elaborats viel besser. Darin berichtet Chua vom Drill ihrer Töchter Sophia und Louise, genannt Lulu. Aus Sorge vor Verweichlichung und Verwestlichung trieb sie Sophia obsessiv, bis zu sechs Stunden täglich und selbst im Urlaub zum Klavierspiel und Lulu zum Geigenunterricht an. Die Ältere, mittlerweile 18 Jahre alt, biss sich buchstäblich am Klavier fest. Weil die Jüngere bockig war, schickte die Mutter sie zur Strafe hinaus in die Kälte des neuenglischen Winters. Mal drohte sie, das Puppenhaus der Heilsarmee zu schenken; mal, die Stofftiere zu verbrennen. Als sie die selbst gezeichneten Geburtstagskarten ihrer Kinder als unzulänglich erachtete, schleuderte sie sie ihnen zurück.

Die jetzt 48-Jährige, im Zeichen des Tigers geboren, erließ eiserne Regeln. Sie untersagte ihren Töchtern, bei Schulfreundinnen zu übernachten oder sie zum Spielen einzuladen, an Schulaufführungen und außerschulischen Aktivitäten teilzunehmen. Dass Fernsehen und Computerspiele verboten waren, versteht sich von selbst. Im Anklang an ihre eigene Kindheit legte sie die Messlatte hoch: Sie akzeptierte nur die Note A und stachelte die beiden an, Klassenbeste zu werden. Als ein koreanisches Mädchen Sophia einmal bei einem Mathematiktest hinter sich ließ, zwang Amy sie zu 2000 Übungsaufgaben – bis sie ihrer „Konkurrentin“ wieder den Rang ablief.

Nachdem das „Wall Street Journal“ zum Erscheinungstermin des Buchs und gleichsam als Begleitfanfare zum Staatsbesuch von Chinas Präsident Hu Jintao ein Kapitel unter dem provokanten Titel „Warum chinesische Mütter überlegen sind“ veröffentlichte, geriet es prompt zum Gesprächsthema auf Dinnerpartys. Es kletterte in den Bestsellerlisten nach oben und löste eine leidenschaftliche Kontroverse aus – „Mommy Wars“ als Kulturkampf.


Genies und Wunderkinder. „Warum bringen es asiatische Kinder zu Mathematikgenies und Musikwunderkindern?“, fragt Chua. „Weil der Spaß erst beginnt, wenn sie richtig gut sind“, lautet ihre Antwort. „Es ist schockierend, wie amerikanische Kids ihre Zeit mit Computerspielen und auf Facebook vergeuden.“ Harte Arbeit, Respekt, Selbstdisziplin – die Prinzipien asiatischer Erziehung – seien Grundlagen des Erfolgs, predigt sie und insinuiert, dass die westliche Kuschelpädagogik in die Irre geführt habe. In den USA, moniert sie, würden Kinder selbst dann mit Trophäen ausgezeichnet, wenn sie bloß am Wettbewerb teilgenommen hätten. „Du kannst deinen Kids sagen, wie großartig sie sind. Aber sie müssen sich der Realität stellen. Und das Leben draußen ist hart.“

„Monster“ schallt es ihr aus manchen Blogs entgegen, zuweilen wird sogar der Vorwurf des Kindesmissbrauchs laut. „Regeln zur Erziehung von Robotern“, subsumiert ein gewisser „HS 321“ den Text. „Eltern wie Amy Chua sind der Grund, warum asiatische Amerikaner wie ich in Therapie sind“, schreibt Betty Ming Liu. Der Kolumnist David Brooks führt in der „New York Times“ ins Treffen, dass US-asiatische Mädchen überproportional oft Selbstmord begingen. Er kritisiert Amy Chua als Feigling, weil sie es verabsäumt hat, ihre Kinder mit der sozialen Dynamik und den Machtkämpfen unter Gleichaltrigen zu konfrontieren. Der Haupteinwand: Die Kreativität verkümmert. Viele US-Asiaten erkennen sich hingegen mit einem Schmunzeln in Chuas Porträt wieder.

Keine Frage: Das Buch trifft einen Nerv. In den USA greift angesichts des Geredes um die herandräuende Dominanz Chinas und den unaufhaltsamen Abstieg Amerikas Nervosität um sich. Die jüngste PISA-Studie manifestiert das Minderwertigkeitsgefühl: Im Lesen (17. Stelle), in der Wissenschaft (23.) und im Rechnen (31.) rangieren die US-Schüler weit abgeschlagen. Jeweils auf Platz eins: Schanghai.

In seiner Rede zur Lage der Nation beschwor Präsident Barack Obama einen „Sputnik-Moment“ herauf, ein Signal für einen nationalen Kraftakt. Seine Tochter Sasha, die eine teure Privatschule besucht, lernt jedenfalls schon Mandarin. Auch in elitären New Yorker Kreisen gilt es inzwischen als schick, Kids im Kindergartenalter mit Chinesisch zu traktieren und für sie chinesische Au-Pairs zu engagieren.

Im Imbiss „Szechuan“ in Washingtons kleiner Chinatown – einer etwas schäbigen Speisehalle, die auch in Peking stehen könnte – glaubt die Hongkong-Chinesin Judy Kwong, eine Kindergartenassistentin im reiferen Alter, das Übel zu kennen: „Es gibt hier zu viel Freiheit.“ Sie deutet auf den Hintern: „Da braucht es einen Klaps. Wir sind ja auch geschlagen worden.“ Derlei Brachialmethoden sind Nancy Wu nicht geheuer. Die 19-jährige Studentin aus New Jersey schleppt im Schneegestöber auf dem Campus der Georgetown University den Geigenkoffer mit sich: „Ich weiß von Freunden, die durften nicht mit ins Sommerlager. Die wurden in Biologiekurse gesteckt. Ich aber hatte immer die freie Wahl.“

Für Amy Chua endet ihr Experiment im Eklat. In einem Moskauer Restaurant schmeißt Lulu ihr Glas auf den Boden und ihrer Mutter eine Hasstirade an den Kopf. Geige tauscht sie gegen Tennisschläger. Die Tigermutter ist zerknirscht: „Mit 13 wird sie es nicht mehr an die Spitze bringen.“

Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte.
Verlag Nagel & Kimche,
256 Seiten,
20,50 Euro.

Auf Englisch erschien das Buch unter dem Titel „Battle Hymn of the Tiger Mother“ bei Penguin (USA) und Bloomsbury (Großbritannien).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2011)

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