Júlio César: Der beste Tormann der Welt

Jlio Csar beste Tormann
Jlio Csar beste Tormann(c) AP (Roberto Candia)
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Die Selecão verspielt allmählich ihre Sonderstellung als Sinnbild für Kunst, Freiheit und Kreativität. Denn nicht Kaká oder Robinho, sondern Torhüter Júlio César gilt mittlerweile als wichtigster Mann auf dem Feld.

Johannesburg. Im Gesicht von Raul Meireles stand Entsetzen, als er auf den Boden fiel und den Kopf in seine bemerkenswert dicht tätowierten Arme stützte. Fußballprofis können solche Szenen ja am besten selbst einschätzen, und der Portugiese wusste, dass er eigentlich alles richtig gemacht hatte, als ein Querschläger von Lúcio in seinem Lauf landete und er den Ball leicht über den herausstürzenden Keeper hob. Was Meireles nicht fassen konnte, war, dass dieser Keeper, dieser Júlio César, noch seine Hand an den Schuss bekommen konnte.

Júlio César hat sich bei der todesmutigen Aktion an der Brust weh getan, er erwägt fortan den Einsatz eines Spezialschutzes. Der 30-Jährige rettete seiner Mannschaft den Gruppensieg, Brasilien darf heute gegen Chile spielen statt morgen gegen Spanien. Und Júlio César Soares de Espíndola unterstrich mit der Parade auch bei der WM seine Stellung als momentan bester Torwart der Welt. Zu diesem haben ihn ehemalige Keepergrößen wie Oliver Kahn, Dino Zoff oder José Luis Chilavert erklärt, nachdem er in der Champions League schon ganz andere Gegner als Meireles zur Verzweiflung gebracht hatte – Didier Drogba, Lionel Messi, Arjen Robben. Mit Inter Mailand gewann er die Champions League und schrieb außerdem eine erstaunliche Serie fort: Seit er dort 2005 das Tor zu hüten begann, wurden die Lombarden jedes Jahr Meister.

Ausgerechnet auf der Torwartposition ist Brasilien bei diesem Turnier also die Nummer eins. Das gab es noch nie, lange mussten die Offensivkünstler vorn für alle Fälle immer ein Tor mehr schießen, im Vorgriff auf zu erwartende Patzer ihrer Torsteher. Die schlimmste Niederlage der Landesgeschichte hat natürlich auch ein „Goleiro“ auf dem Gewissen – den „Maracanazo“, die WM-Finalpleite 1950 gegen Uruguay im neu eröffneten Fußballtempel von Rio de Janeiro. Der Verantwortliche, Moacir Barbosa, wurde noch Jahrzehnte später vom Verband von allen Anlässen ausgeschlossen, die mit der Nationalmannschaft zu tun hatten – er galt als verflucht. 1979 starb er, verarmt und ausgestoßen.

Torhüter zu werden schien in Brasilien seitdem kein besonders attraktives Berufsziel. Auch Júlio César begann als Stürmer, bevor er in der Jugend von Flamengo zum Zerberus umgeschult wurde. Schon in den vergangenen Jahren haben solide Keeper wie Taffarel und Dida den Ruf der brasilianischen Schule wieder aufgebessert, dass die „Canarinha“ jetzt aber für ihren Keeper regelrecht bewundert wird, hat eine neue Qualität – und eine unfreiwillige Symbolik.

Ohne brasilianische Lebensfreude

Das ideenlose Ballgeschiebe am Freitag beim 0:0 gegen Portugal brachte jedenfalls sogar Carlos Dunga auf der Bank zur Verzweiflung, den Architekten dieser Mannschaft und ihres pragmatischen Ansatzes an das Spiel. Brasilien ist bei diesem Turnier dabei, seine Sonderstellung zu verspielen Statt als Sinnbild für Kunst, Freiheit und Kreativität zu stehen, kommt sie wie eine um ein paar starke Individualisten aufgerüstete europäische Allerweltself daher. Kompakt, kampfstark. Typisch brasilianische Lebensfreude strahlen evangelikale Gottesmenschen wie Kaká und Lúcio auch nur bedingt aus.

Der Torwart muss deshalb neuerdings auch noch für den Glamour sorgen: Júlio César ist verheiratet mit dem Model Susana Werner, der langjährigen Freundin von Ronaldo. Sie sorgt immerhin gelegentlich für Aufruhr bei der unter Dunga hermetisch abgeschotteten Nationalelf. Im Oktober 2009, ihr Júlio war bei der „Seleção“, schrieb sie in ihrem Blog voller Stolz, dass er von „einem großen Klub mit Angeboten belagert“ werde. Bei Inter, wo sie sich durchaus auch für einen großen Klub halten, waren sie nicht amüsiert.

Trotzdem wird er in Mailand von allen in höchsten Tönen gelobt. „Er hat eine unglaubliche Reaktionsfähigkeit“, sagt einer seiner Vorgänger, Gianluca Pagliuca, „er ist schnell, und man sieht ihn immer wach, konzentriert und mit großer Präsenz“. So sehr vertraut Júlio César seinen Reflexen, dass man riskante Manöver außerhalb seines Terrains von ihm nicht sehen wird, er ist in dieser Hinsicht ein eher konservativer Keeper.

Ein traditioneller Brasilianer scheint er auch zu sein. „Im Finale wird Samba getanzt und nicht Tango“, hat er angekündigt, als er auf die Stärke der Argentinier angesprochen wurde. Jetzt fragt sich bloß noch, woher das Spektakel vor ihm kommen soll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2010)

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