Neurologie: Wenn Muskelzellen verrückt spielen

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Grazer Forscher haben eine neue, seltene Muskelkrankheit entdeckt. Betroffen sind ausschließlich Männer. Sie haben oft eine athletische Figur – ohne zu trainieren.

GRAZ. „Die Erkrankten werden oft sogar wegen ihres athletischen Aussehens beneidet“, berichtet Stefan Quasthoff, Neurologe der Medizin-Uni Graz. Gemeinsam mit dem Genetiker Christian Windpassinger entdeckte er eine vererbliche Muskelkrankheit und nannte sie XMPMA-Myopathie.

Auch das dazugehörige Gen, dessen Mutation der Auslöser der Erkrankung ist, konnten die Wissenschaftler ausfindig machen. Die Krankheit wurde in Österreich bisher erst bei einer steirischen Familie festgestellt: Sie führt dazu, dass die Betroffenen stark ausgeprägte Muskeln wie Bizeps oder Latissiums haben – daher das athletische Erscheinungsbild.

Vererbung über X-Chromosom

„Es handelt sich dabei um eine Vergrößerung der ,schnellen‘ Muskulatur“, erklärt Christian Windpassinger. „Die langsame Muskulatur, also jene, die für die Stützung unseres Körpers notwendig ist, wird hingegen abgebaut und verschwindet zunehmend.“

Der erste Fall dieser seltenen Krankheit, die damals den Ärzten noch Rätsel aufgab, wurde schon 1971 beschrieben. Doch erst durch das verstärkte Auftreten des ungewöhnlichen Krankheitsbildes bei den Nachkommen des Patienten bemerkten die Ärzte, dass es sich um eine Erbkrankheit handeln musste. Der Stammbaum der steirischen Familie zeigte, dass es das X-Chromosom sein muss, welches das fehlerhafte Gen trägt: Das erkennt man daran, dass die Erkrankung jeweils eine Generation überspringt. Und da nur Männer – nie aber Frauen – betroffen waren, wussten die Wissenschaftler, dass es sich um ein rezessives Gen handelte. Bei Frauen wird demnach das defekte Gen durch das gesunde Gen am zweiten X-Chromosom unterdrückt. „Erst nachdem wir daran glaubten, dass es eine definierbare Krankheit ist, konnten wir gezielt nach den Ursachen suchen“, sagt Quasthoff.

„Auf den X-Chromosomen gibt es bekannte Regionen, die für andere Muskelerkrankungen verantwortlich sind“, erklärt Windpassinger. Daran konnten sich die Genetiker bei der Suche nach einer Gen-Mutation orientieren – sie analysierten eine Reihe von Kandidatengenen bei allen sechs betroffenen Männern. Mit Erfolg: Der genaue Ort am Chromosom, der bei allen Betroffenen eine typische Mutation trägt, wurde gefunden. Es ist das Gen FHL1, das, wenn es gesund ist, die Interaktionen zwischen Muskelproteinen steuert. Bei Personen mit der FHL1-Mutation funktioniert die Differenzierung in schnelle und langsame Muskelzellen nicht mehr. Daher rührt die Überentwicklung der schnellen Muskeltypen und das Verschwinden der langsamen Stützmuskulatur.

Zu Beginn ihrer Forschungen dachten die Wissenschaftler, die Erkrankung sei so selten, dass beim Publizieren der bahnbrechenden Ergebnisse keine Eile bestünde. Doch über internationale Kontakte war bald klar: Auch andere Arbeitsgruppen forschten schon in dieselbe Richtung. „Als wir erkannten, dass es die Erkrankung weltweit gibt, mussten wir uns beeilen“, erzählt Quasthoff.

Als Früherkennungszeichen der Erkrankung nennt er verkürzte Achillessehnen und eine steife Wirbelsäule. Betroffene gelangen beispielsweise nicht mit dem Kinn bis zur Brust. An den österreichischen Patienten erkannten die Mediziner, dass die Krankheit meist erst nach dem 30. Lebensjahr ausbricht. Durch den entdeckten Zusammenhang mit dem FHL1-Gen können Personen nun schon in jüngeren Jahren getestet werden, ob eine Mutation vorliegt. Zudem hilft die Entdeckung Patienten, die bereits an einer schwer zuordenbaren Muskelerkrankung leiden: Auch sie können nun gezielt auf das FHL1-Gen untersucht werden.

Herzmuskel betroffen

Ein wichtiges Detail, das die beiden Grazer aufdeckten, ist der Zusammenhang mit einer Herzmuskelerkrankung: Viele der Betroffenen leiden an einer Verdickung der Herzwand, die typische Veränderungen im Herz-Ultraschall und EKG bedingt. Die Mediziner können nun nicht nur Patienten mit bisher ungeklärter Muskelerkrankung sondern auch mit ungeklärter Herzmuskelerkrankung auf die FHL1-Mutation testen. „Herz- oder Lungenversagen sind die häufigsten Todesursachen,“ so Quasthoff. Über die durchschnittliche Lebenserwartung lässt sich mangels statistischer Daten noch nicht viel sagen. „Der jüngste uns bekannte starb mit 45, der älteste wurde immerhin 70.“

Seit der Veröffentlichung der Grazer Ergebnisse fanden sich bereits Familien in Deutschland, England, USA und Australien, die an dieser erblichen Krankheit leiden. „Wir haben leider noch keine Therapiemöglichkeit“, beschwichtigt Windpassinger. Doch in den USA gibt es bereits Mäuse, denen das FHL1-Gen gezielt entfernt wurde. „Am Mäusemodell kann man in Zukunft hoffentlich in Richtung Therapie forschen“, so Windpassinger. Das neue Wissen um Krankheit macht zumindest eine laufende Gesundheitskontrolle möglich. „Die Patienten werden jährlich kardiologisch untersucht – so können wir Veränderungen am Herzmuskel frühzeitig feststellen.“

MUSKELKRANKHEITEN

Vererbte Muskelerkrankungensind nicht besonders häufig: Am bekanntesten ist die Duchenne-Muskeldystrophie, bei der es in Folge des Muskelschwundes schon im Kindesalter zu schmerzhaften Fehlstellungen von Gelenken und zu Knochenverformungen kommt. Die Becker-Kiener-Muskeldystrophieverläuft langsamer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.04.2008)

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