Experte: „Islam war fortschrittlicher“

A woman holds up a sign reading ´Coexist´ in front of the Brandenburg Gate prior to vigil for the victims of Paris attacks in Berlin
A woman holds up a sign reading ´Coexist´ in front of the Brandenburg Gate prior to vigil for the victims of Paris attacks in Berlin(c) REUTERS (FABRIZIO BENSCH)
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Der Islamexperte unter den (christlichen) Religionswissenschaftlern in Wien, Wolfram Reiss, betont: „Muslime sind ein Teil von Österreich und anderen europäischen Ländern.“

Die Presse: Kritiker werfen dem Islam eine Affinität zu Gewalt vor. Wie sieht Ihr Befund aus?

Wolfram Reiss: Es gibt im Islam keinen besonderen Bezug zu Gewalt. Gerade der Islam in der Frühzeit im 7., 8.Jahrhundert war besonders tolerant. Die Zeit war durch Verträge mit Gruppen gekennzeichnet, die in den eroberten Gebieten ihren religiösen Riten nachgehen konnten. Toleranz ist dort sehr viel früher bekundet worden als im Westen. Der Islam war über Jahrhunderte fortschrittlicher als der Westen. Aber natürlich gab es auch Gewaltanwendung. Es ist nicht so, dass sich der Islam rein friedlich ausgebreitet hat. Aber es gab keine Vernichtungskriege, und es wurde eine Kriegsethik entwickelt, mit der versucht wurde, religiöse Führer, Nicht-Kombattanten nicht zu ermorden. Das ist das, was beim sogenannten Islamischen Staat nicht der Fall ist. Der steht eben nicht in islamischer Tradition.


Wie ist diese Toleranz der Frühzeit verloren gegangen?

Sie ist nicht verloren gegangen, sondern auf dem Stand des 7., 8.Jahrhunderts stehen geblieben. Gleichzeitig ist Toleranz etwas anderes als Gleichberechtigung. Es gibt eine Duldung.


Aber die gibt es beispielsweise in Saudiarabien für die Ausübung christlicher Praxis nicht.

Es gibt eine Duldung von christlichen und jüdischen Minderheiten in fast allen islamischen Staaten. Da existiert eine Liste der Religionen, die anerkannt sind, die auch ihre eigenen Rechte haben. Es wird nicht verlangt, dass man sich in allen Dingen an die Scharia hält.

Saudiarabien ist also ein Spezialfall?

Saudiarabien ist ein Spezialfall. Das wird auch von vielen islamischen Ländern kritisiert. Nur: Mit einer Duldung war nie eine Gleichberechtigung verbunden. Das ist die Crux, dass diese Konzeption von allgemeiner Gleichberechtigung auch gegenüber jenen, die nicht als Monotheisten angesehen werden, in der islamischen Welt kaum entwickelt worden ist. Es gibt nur wenige Ansätze einer Toleranz auch gegenüber Atheisten, Säkularen oder Polytheisten. Das ist das Problem.

Da gibt es Nachholbedarf.

Das ist eines der Hauptprobleme. Da gibt es Nachholbedarf. Es gibt einige Reformer, die versuchen, neue Konzepte mit einer prinzipiellen Toleranz gegenüber jedem Menschen zu entwickeln. Ein weiteres Kernproblem ist die Frage: Was ist mit denen, die sich vom Islam abwenden?

Wo sehen Sie die eigentliche Wurzel dieser Probleme?

Die Menschenrechtsdebatte, die sich bei uns im 18., 19., 20. Jahrhundert entwickelt hat, ist nicht in der gleichen Weise in der islamischen Kultur mitvollzogen worden.

Dem Islam steht also die Aufklärung noch bevor?

Es bedarf Neukonzeptionen und der Aufnahme der Gedanken in der islamischen Welt, die in der Aufklärung entwickelt wurden. Das steht dem Islam noch bevor.

Sehen Sie Ansätze für eine derartige Neuentwicklung, und könnte es so etwas wie einen Islam europäischer Ausrichtung geben, der da Vorreiter sein könnte?

Es gibt diese europäische Ausrichtung des Islam bereits. An den verschiedenen Lehrstühlen, die jetzt in Deutschland und auch in Österreich geschaffen wurden oder werden, wird europäisches Denken mit aufgegriffen und zu einer neuen Synthese geführt.

In Österreich selbst ist derzeit davon noch nicht viel zu erkennen.

Ich sehe das nicht so negativ.

Steht nach den jüngsten Anschlägen eine weitere Polarisierung in der Gesellschaft zu befürchten, die den Attentätern sogar in die Hände spielen könnte?

Richtig. Man muss die Integrationsanstrengungen noch sehr viel stärker forcieren, um deutlich zu machen: Muslime sind ein Teil von Österreich, von Deutschland und anderen europäischen Ländern, und wir wehren uns gemeinsam gegen radikale Gruppierungen – genauso gegen radikale Nationalisten wie auch gegen radikale Muslime. Das passiert derzeit. Das ist, bei aller Konfrontation, eine positive Entwicklung.

ZUR PERSON

Wolfgang Reiss ist Religionswissenschaftler. Der gebürtige Deutsche lehrt an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien und gilt als ausgewiesener Islam-Experte. [ Internet]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2015)

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