Pädophilenring in britischer Politik

(c) Reuters (PAUL HACKETT)
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Mehr als 100 Dossiers, die schwere Vorwürfe gegen Politiker aus den 1980er- und 1990er-Jahren beinhalten, sind am Wochenende plötzlich verschwunden.

London. Nach der Kirche und den Medien haben die Vorwürfe massiven sexuellen Missbrauchs in der Vergangenheit nun auch die britische Politik erreicht. Das Innenministerium in London musste am Wochenende das Verschwinden von mehr als 100 Dossiers mit schweren Vorwürfen gegen Politiker aus den 1980er- und 1990er-Jahren einräumen. Der Labour-Abgeordnete Simon Danczuk meint: „Die Öffentlichkeit wird glauben, dass hier etwas faul ist.“

Danczuk hat erst vor wenigen Wochen den verstorbenen Liberaldemokraten Cyril Smith als Serientäter entlarvt. Smith soll über Jahrzehnte Buben missbraucht haben, das jüngste seiner Opfer soll acht Jahre alt gewesen sein. Seine Aktivitäten waren kaum zu übersehen: „Sein ungesundes Interesse an Buben war allgemein bekannt“, sagt Danczuk. Doch das Establishment hielt eisern zusammen. Als Smith 2010 starb, war er einer der bekanntesten und angesehensten Parlamentarier des Landes.

Smith soll keineswegs ein Einzeltäter gewesen sein. Nach Erkenntnissen des Abgeordneten Tom Watson operierte in den 1980er-Jahren ein organisierter Pädophilenring im Londoner Regierungsviertel Westminster. Eine 1983 von dem konservativen Abgeordneten Geoffrey Dickens zusammengestellte Dokumentation bildet das zentrale Stück der nun seltsamerweise verschwundenen Dokumente. Der damalige Innenminister Leon Brittan aus der Regierung von Margaret Thatcher steht deshalb jetzt massiv unter Druck. Brittan selbst soll wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung einer jungen Frau in den 1960er-Jahren erpressbar gewesen sein. Er bestreitet alle Vorwürfe.

Systematischer Missbrauch

Damit nicht genug: Auch gegen einen namentlich nicht genannten Labour-Abgeordneten im Oberhaus wurden Vorwürfe des systematischen sexuellen Missbrauchs von Buben erhoben. In der Nähe des Parlaments soll ein ehemaliges Wohnheim für obdachlose Buben zu einer Stätte der männlichen Prostitution gemacht worden sein. Die Eigner, ein Ehepaar, wurden schließlich wegen Betreibens eines illegalen Bordells zu Haftstrafen verurteilt, die Frau beging im Gefängnis Selbstmord.

Über die Größenordnung des Skandals liegen bisher nur Mutmaßungen vor. Die Zeitung „Observer“ berichtet, einige der Täter seien „allgemein bekannte Namen“, und im Internet kursieren längst die wildesten Gerüchte. Während Premierminister David Cameron „volle Aufklärung“ verlangt, räumt der ehemalige Handelsminister Norman Tebbit eine „Kultur“ des Vertuschens ein: „Der Instinkt war es, das System zu schützen“ und „unangenehmen Anschuldigungen“ nicht allzu genau nachzugehen. Wie aus den anderen Missbrauchsfällen bekannt ist, schafft man genauso das Klima, in dem grausame Einzeltäter ihre Verbrechen an Kindern begehen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2014)

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