Timoschenko: "Dann müsste man alle einsperren"

Dann muesste alle einsperren
Dann muesste alle einsperren(c) AP (Virginia Mayo)
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In Charkiw, wo Timoschenko einsitzt, sind die Proteste erstarrt. Die Opposition bündelt indes ihre Kräfte. Timoschenko ist im Oktober 2011 zu sieben Jahren Haft wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden.

Charkiw. Die Dame im wattierten lilafarbenen Wintermantel mit farblich passender Wollmütze muss einige Zeit in ihrer Plastiktüte kramen, bis sie das Geschenk für ihre „Julia“ zu Tage fördert: Ein Ikonenbildchen aus Pappe, eingeschweißt in Plastik, wie man es in den orthodoxen Kirchen für ein paar Griwna erstehen kann. Das habe sie ihrem Idol, dieser „Kämpferin“, überreichen wollen, aber man lasse sie nicht zu ihr vor.

Ihre Fans nennen Julia Timoschenko stets beim Vornamen, als wären sie gut mit ihr befreundet. Die frühere Premierministerin der Ukraine sitzt hinter einer weißen, von Stacheldraht umrankten Mauer in einer Zelle der Strafkolonie54, in einem Vorort der ostukrainischen Stadt Charkiw zwischen Autoreparaturbetrieben und Lagerhäusern.

Die 54-jährige frühere Arbeiterin, die ihren Nachnamen nicht nennen will, und zwei Straßenhunde sind die Einzigen, die an diesem Tag vor dem Gefängnis anzutreffen sind. Nur ein paar Meter weiter soll Timoschenko in einer Zelle in „Luks“-Ausführung sitzen, die Regierung hat entsprechende Fotos zirkulieren lassen. Draußen zeigt das Thermometer minus 13Grad, ein eisiger Wind wirbelt den am Boden liegenden Schnee immer wieder von Neuem auf.

Aus den Augen der Öffentlichkeit

Aus der 500 Kilometer entfernten Hauptstadt hat man Timoschenko Ende 2011 in das Frauengefängnis in der zweitgrößten Stadt des Landes verfrachtet. In Charkiw weht ein Russland-freundlicherer Wind durch die Gassen, hier ist es ruhiger. Keine für die Polizei lästigen täglichen Demos von Unterstützern, keine wachsamen Augen ausländischer Botschafter und Politexperten.

Für Elena ist Timoschenko unschuldig – bzw. so unschuldig, wie ein Politiker mit Oligarchenvergangenheit in der Ukraine eben sein kann: „Wenn man Timoschenko einsperrt, müsste man alle anderen auch einsperren“, sagt sie. Damit sind allen voran die politischen Widersacher der Partei der Regionen gemeint, die Unterlegenen der Orangen Revolution, die seit der Wahl von Präsident Viktor Janukowitsch 2010 wieder in hochrangige Ämter und Würden kamen.

Timoschenko ist im Oktober 2011 zu sieben Jahren Haft wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden. Womöglich nicht der letzte Schuldspruch: Das Gericht ermittelt bereits in einer weiteren Causa. Die Führung rund um Präsident Janukowitsch dementiert eine politisch motivierte Haftstrafe. Faktum ist, dass die Politikerin bei der Parlamentswahl im Oktober und der Präsidentenwahl 2015 wohl nicht teilnehmen wird. „Wäre ich Präsident, würde ich sie begnadigen“, sagt Elena. „Die Bürger sollen bei den Wahlen selbst entscheiden, wem sie vertrauen.“

Doch nicht nur die Regierung muss derzeit hart um die Gunst der Wähler kämpfen, auch die Oppositionsparteien sind nicht gut angeschrieben. Sie möchten sich nun aus der Starre befreien und bei der Parlamentswahl die leidigen Streitigkeiten ruhen lassen. Für 225 Sitze (von 450), die nach der vor Kurzem verabschiedeten Wahlrechtsreform nunmehr per Mehrheitswahlrecht bestimmt werden, will man gemeinsame Kandidaten aufstellen. Nach heutigem Stand würde die vereinte Opposition, darunter Timoschenkos Vaterlandspartei, Witalij Klitschkos „Udar“ („Schlag“) und etwa Oleg Tjagniboks radikal-nationalistische „Freiheit“, dennoch die Mehrheit verfehlen.

Internationales Ärzteteam steht bereit

Die Informationen über Timoschenkos Gesundheitszustand sind widersprüchlich. Sie habe schwere Gelenks- und Rückenschmerzen, man habe ihr K.-o.-Tropfen verabreicht, sie sei in Ohnmacht gefallen, sagen ihre Unterstützer. „Sie kann sich nicht mehr selbstständig bewegen“, erklärt Timoschenkos Sprecherin Natascha Lysowa der „Presse“. Die offizielle Ukraine dementiert. Ein internationales Ärzteteam soll nun eine unabhängige Diagnose stellen. Das Datum der Visite steht allerdings noch nicht fest.

Zu der Kundgebung vor der Strafkolonie54 hat sich nur noch eine Pensionistin zu Elena gesellt. Eine Streife der Miliz und Zivilbeamte in einem schwarzen Wagen beäugen die beiden Demonstrantinnen aus ein paar Metern Entfernung. Der eisige Wind bläst Elena ins Gesicht. „Wir kämpfen weiter“, sagt sie und lässt das Heiligenbildchen in ihrer Tasche verschwinden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2012)

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