"Die neue Weltwirtschaftskrise"

Von Paul Krugman. Wer eine Abrechnung mit der Bush-Administration erwartet, wird enttäuscht sein. Paul Krugmans Buch über „Die neue Weltwirtschaftskrise“ erklärt sachlich, wie es dazu kommen konnte und wo die Politik falsch reagiert hat.

Die Welt scheint Kopf zu stehen: Die Banken haben kein Geld. Die Staaten sollen es ihnen geben. Wie soll denn das möglich sein? Die Staaten haben ja seit Langem Defizite – und finanzieren sie über Banken und andere Finanzinstitute. Es ist, als ob neuerdings die Donau vom Schwarzen Meer in den Schwarzwald flöße und daher das Wasser zurückgeführt werden müsse.

Es geht nicht um kleine Beträge. In den USA sind es zunächst 800 Milliarden Dollar – und das wird nicht genug sein. In Österreich handelt es sich um 100 Milliarden Euro, ein angesichts der Größenverhältnisse der beiden Ökonomien noch höherer Betrag. Er ist nicht viel kleiner als die Summe aller öffentlichen Budgets in Österreich, inklusive der Sozialversicherungen. Sind die Quellen der Ströme an Finanzmitteln, die bisher in die Banken geflossen sind, versiegt? Natürlich werden die Zahlungsströme geringer, wenn die Produktion und damit die Einkommen zurückgehen. Aber der bisherige Abschwung der Produktion ist viel zu gering, um das Ausmaß des Ausfalls bei den Banken zu erklären. Die Struktur der Finanzierungsströme hat sich geändert. Banken und andere Finanzinstitute können ihrer Aufgabe, nämlich Mittel der Vermögensaufbewahrung und Finanzierung zur Verfügung zu stellen, nur mehr in eingeschränkter Weise nachkommen.

Etwas ist passiert. Auch wenn man nicht böse Personen als Verursacher dieser Krise namhaft machen kann, es waren keine von Menschen unbeeinflussbaren Katastrophen, die das bewirkt haben. Die Krise ist das Ergebnis von Handlungen, über deren mögliche Konsequenzen für die Wirtschaft vorher nicht nachgedacht worden ist. Der Blindheit kam der Wunsch nach extrem hohen Einkommen entgegen. Diese wurden geradezu als Beweis für die positiven Wirkungen dieser Aktivitäten für die ganze Wirtschaft genommen. Wäre man denn bereit gewesen, für die Arbeit Einzelner Zigmillionen zu zahlen, hätte deren Leistung dem nicht entsprochen? Man hat es jedenfalls getan.

Es wundert nicht, wenn der staatliche Nachschuss jetzt als Belohnung für offensichtliches Versagen und also als Verletzung elementarster Vorstellungen von Gerechtigkeit gesehen wird. Jedoch auch eine starke Senkung dieser Einkommen hätte, obwohl wünschenswert und gerechtfertigt, nur den Charakter eines rituellen Opfers, das man bringt, um die höheren Mächte freundlich zu stimmen. Die Banken müssen gerettet werden. Sie haben wichtige Funktionen in den modernen Wirtschaften. Nicht einmal der alltägliche Zahlungsverkehr kann ohne Banken funktionieren.

Gesucht sind Erklärungen für diese Krise. Einen ersten Ansatz liefert das neue Buch von Paul Krugman, dem Nobelpreisträger für Ökonomie im Jahr 2008. Es handelt sich um ein um drei Kapitel ergänztes Buch aus dem Jahr 1999, in dem er die Krisen der 1990er-Jahre in Lateinamerika und Asien analysiert hat. Jetzt kommt die weltweite Krise bis in den Spätherbst 2008 hinzu.

Wirtschaftstheorie, verständlich

Krugman gehört dem liberalen intellektuellen Establishment der USA an, in Europa würden seine Positionen als links bezeichnet werden. Er wird auch außerhalb der akademischen Profession gelesen, weil er Gastkommentator der „New York Times“ ist. Dort muss er kurz und ohne Fachjargon schreiben. Darüber hinaus muss er Argumente bringen, die auch politische Gegner akzeptieren können. Die „New York Times“ ist kein Organ einer Gesinnungsgemeinschaft, in der man für die ohnehin Überzeugten schreibt. Auch das neue Buch weist diese Qualitäten auf. Wer auf heftige Attacken gegen die Regierung Bush hofft, gegen die frühere oder gegenwärtige Führung der amerikanischen Geldpolitik oder gegen das System der Finanzmärkte mit ihren Akteuren, wird enttäuscht sein. Es wird nicht verdammt und verurteilt, obwohl Krugman seit Längerem die hier dargelegten Positionen vertritt. Das Buch erklärt, wie es zur Krise kommen konnte und wo die Politik falsch reagiert hat. Es bietet Wirtschaftstheorie in einer verständlichen Form.

Am Anfang steht eine einfache Geschichte, die, wenn auch vielleicht nicht wahr, so zumindest gut erfunden ist. Eine Gruppe junger Familien in Washington bildet eine Kooperative für gegenseitiges Babysitten. Gutscheine werden ausgegeben, mit denen man diesen Dienst innerhalb der Kooperative kaufen kann. Neue Scheine erhält man, wenn man diesen Dienst verrichtet. Gibt es nur wenige Scheine, heben alle ihre eigenen für besondere Fälle auf und man kann keine erwerben. Die Dienste werden kaum in Anspruch genommen, ein für die Beteiligten unerwünschter Zustand. Durch eine Vermehrung der Scheine kann sich die Gruppe helfen. Hat jeder mehr davon, wird mehr in Anspruch genommen, auch wenn diese Gutscheine nur Papier sind. Das ist die Grundparabel jeder Geldwirtschaft: Zahlungsmittel sind kein Reichtum der Gesellschaft, aber ohne sie kann die Wirtschaft nicht funktionieren. Um etwas kaufen zu können, benötigt man nicht nur Vermögen oder Einkommen, ein Teil davon muss in einer Form sein, die von anderen als Zahlungsmittel akzeptiert wird – der Fachausdruck: Liquidität. In mehreren Varianten kommt Krugman auf diese Geschichte zurück.

In den ersten Kapiteln werden die Krisen in Asien, Lateinamerika und Russland der 1990er-Jahre analysiert. Es war immer das Gleiche. Die Wirtschaft eines Staates gerät plötzlich in Verdacht, in eine Krise zu geraten. Aus Angst vor Verlusten wird Kapital abgezogen. Dadurch geht der Umfang der liquiden Mittel der betreffenden Wirtschaft stark zurück. Produktion und Einkommen sinken. Der ursprüngliche Verdacht bestätigt sich, unabhängig davon, ob er zuerst berechtigt gewesen ist oder nicht. Bei den Krisen in Lateinamerika gab es tatsächlich erhebliche wirtschaftliche Ungleichgewichte, für die asiatischen Krisenländer gilt das kaum. Der Verdacht auf Krise entsteht rasch, gelegentlich wird er auch bewusst erzeugt.

Krugman zeigt, wie diese Krisen entstanden sind und wie darauf reagiert wurde. In einigen Fällen in einer zunächst die Krise verstärkenden Weise, manchmal auch recht vernünftig. Erläutert wird das zugrunde liegende Problem, dass ein Staat nicht gleichzeitig drei weitgehend akzeptierte Ziele der Wirtschaftspolitik verfolgen kann: einen festen Wechselkurs, eine autonome Geldpolitik und einen freien Kapitalverkehr. Die Ziele sind gut. Ohne stabile Wechselkurse können Exporteure und Importeure schwer planen. Eine autonome Geldpolitik wiederum ist Voraussetzung für die Möglichkeit der Konjunktursteuerung. Schließlich ist ein weitgehend freier Kapitalverkehr wichtig, wenn man Kapital ins Land holen will.

Danach wird die gegenwärtige Krise analysiert. Fragen der Außenwirtschaft spielen dabei eine geringe Rolle. Dennoch geht es um die Auswirkungen entwickelter Finanzmärkte für die reale Wirtschaft. Zunächst: In den letzten 25 Jahren gab es in den USA und in Westeuropa eine ruhige wirtschaftliche Entwicklung. Die Konjunkturzyklen waren schwach ausgeprägt, die Inflation blieb gering. Der Geldpolitik, insbesondere der der USA, schien eine Feinsteuerung gelungen zu sein. Sie reagierte auf einen Abschwung der Wirtschaft derart, dass es mehr liquide Mittel gab, und bei einem zu starken Aufschwung so, dass die Liquidität verringert wurde. Im Fachjargon nennt man das den neokeynesianischen Konsens. Wieso plötzlich dieser Zusammenbruch?

Nun, es gab eine zweite Entwicklung, die, wenn auch nicht unbemerkt, so doch nicht wirklich beachtet wurde. Es entstanden neue Finanzierungstechniken und damit neuartige Finanzmärkte. Dadurch gelang es, mit einer gegebenen Summe Eigenkapitals ein größeres Finanzierungsvolumen zu erwirken. So konnten Banken ihre Hypothekarkredite zu großen Einheiten bündeln und auf entsprechenden Märkten an Fonds verkaufen. Mehr Kredite wurden vergeben. Das ist nicht schlecht. Die Finanzierung der realen Wirtschaft wurde erleichtert. Nicht wenige Familien mit niedrigem Einkommen etwa konnten sich ein Haus leisten, das andernfalls für sie unerreichbar gewesen wäre. Krugman bringt weitere Beispiele.

Die neuen Finanzierungstechniken führten zu einem Aufbau eines Schattenbanksystems, das eine immer größere Bedeutung bekam. Das war nicht nur eine Folge einer technischen Entwicklung. Es bot sich damit die Möglichkeit, außerhalb der bestehenden gesetzlichen Regulierungen und Kontrollen zu arbeiten, weil diese neuen Finanzinstitute und die entsprechenden Märkte nicht geregelt waren. Die dominierende Fundamentalideologie, dass Märkte möglichst frei sein sollen, ließ erst gar nicht die Idee aufkommen, dass es etwas zu regeln gebe. Bei den Hedgefonds etwa sagte man, dass es sich um reiche Personen handle. Sollten die verlieren, sei das kein Problem. Das ist nicht falsch, übersehen wurde aber, dass jeder Fonds ein Glied in einer Finanzierungskette ist. Fällt einer aus, wird der Strom an Finanzierungsmitteln dünner.

Einige Zeit lang hat das recht gut funktioniert. Sogar zwei spekulative Blasen, zuerst die „Dot.com-Blase“ und wenige Jahre später die Aktienblase, konnten ohne große Probleme für die reale Wirtschaft überstanden werden. Die dritte Blase in wenigen Jahren, diesmal die Immobilienpreise betreffend, führte zur gegenwärtigen Krise.

Kleine Störungen, große Folgen

Es braucht für so einen Abschwung keine großen Ereignisse, keine bösen Akteure. Kleine Störungen können auf diesen Märkten riesige Auswirkungen haben, da sich die Erwartungen über zukünftige Entwicklungen rasch ändern können. Wenn, aus welchen Gründen auch immer, ein Abschwung erwartet wird, dann kann dieser eintreten und sich schnell verstärken, so wie sich lange Zeit der Aufschwung verstärkt hat.

Es gab in diesem System insgesamt zu wenig Eigenkapital für den Fall, dass Verluste auftreten. Es wurde nicht bedacht, wie Verluste von einer Institution auf die anderen durchschlagen. Hat ein Fonds einen Verlust, verlieren dessen Gläubiger, oft andere Finanzinstitute, die diesen Verlust wiederum weiterreichen müssen. Zu wenig beachtet wurde auch, dass Risken sich oft gegenseitig verstärken. Wenn etwa nur eine österreichische Bank in Osteuropa aktiv wäre, so könnten auch dramatische Verluste daraus leicht aufgefangen werden, so wie man das bei der Bawag gemacht hat. Das österreichische Geschäft der betreffenden Bank wäre nicht gefährdet gewesen. Da aber mehrere österreichische Banken im Osten engagiert sind, können im schlimmsten Fall die Verluste so groß sein, dass auch das heimische Geschäft dieser Banken leiden würde. Bei Island ist diese Katastrophe eingetreten.

Jetzt benötigt jeder mehr Liquidität und wird vorsichtiger bei Kreditvergabe und Veranlagung. Insgesamt geht dadurch die Liquidität des Finanzsystems zurück und damit Konsum und Investitionen. Die bisherigen Kanäle der Geldpolitik, von der Zentralbank über die Geschäftsbanken bis zu den öffentlichen Budgets, Unternehmen und Haushalten funktionieren nicht mehr. Neue Instrumente müssen gesucht werden, um das Finanzsystem wieder ins Laufen zu bringen. Krugman gibt in diesem Buch keine Antwort auf die Frage, wie denn das geschehen soll. Es ist dennoch ein gutes Buch. Es zeigt die Probleme, es klärt auf, und es trägt hoffentlich dazu bei, vernünftige Lösungen in der Öffentlichkeit diskutieren zu können. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2009)

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