Fidel in Havanna

Cuba
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In Kuba ist das Tanzen eine normale Fortbewegungsart: Notizen aus dem größten Verfallsmuseum der Welt.

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Havanna strahlt gleißend, doch wer genauer hinsieht, bemerkt das Strahlen einer zahnlosen Greisin. Trotz eines Revitalisierungsprogramms ist die gesamte Innenstadt nur noch eine gigantische Ruine. Die Häuser aus der Kolonialzeit, oft fünf, sieben oder zehn Stockwerke hoch, sind in einigen Ebenen bereits völlig zerfallen, während in anderen Hausteilen Wäsche aus den Fenstern hängt – wohl ein Symbolbild für Kuba am Beginn des 21. Jahrhunderts. Unten, in den Straßen dieses größten Verfallsmuseums der Welt, finden sich das ganze Jahr über die Musikgruppen zusammen. Alle klingen ein bisschen wie der Buena Vista Social Club, sanft, melodiös swingend, mit punktuellen Misstönen. Auf recht natürliche Art gehört dieses Swingen, Singen und Klagen alter Männer zum Leben, und gelegentlich findet sich jemand, der dazu auch tanzt. Niemand hält das für seltsam. In Havanna ist Tanzen eine normale Fortbewegungsart.

Wie sieht ein Land aus, das nicht durch die Maschinerie des Kapitalismus gedreht wurde, das fast fünfzig Jahre lang seinen eigensinnigen Weg ging? Verfallen, angeschlagen, aber dennoch nirgends völlig zerstört. „Selbst in der teilweisen Verwesung phosphoresziert die Stadt wie ein überdimensionaler Feuersalamander“, schreibt Gerhard Drekonja-Kornat im Vorwort seiner Bestandsaufnahme „Havanna“ (2007), in der er Autorinnen und Autoren die Gegenwart einfangen lässt – zum Thema „Wie lange noch?“ Ein anderes literarisches Denkmal wurde der „Stadt der Einstürze“ von Abílio Estevez gesetzt, der in „Los palacios distantes“ ein elendes und doch glanzvolles Havanna zeichnet: Sein 40-jähriger Protagonist lebt in einem Haus, das abgerissen werden soll. Er verbrennt seine Habseligkeiten und begibt sich in das Weichbild der Stadt, wo er in einem verfallenen Theater unterschlüpft.

Doch manche Häuser sind perfekt renoviert: Im mondänen Vedado blickt das Hotel „Habana Libre“ über die Stadt: Es ist, in deutlich höherem Maße als der gigantisch kahle Revolutionsplatz einige Kilometer weiter, das Symbol eines Sonderwegs. Hier, im ehemaligen Hilton, richtete Fidel Castro im Jänner 1959 die Polit-Zentrale ein. In diesem Augenblick endete das Batista-Regime und eine von der US-Mafia regierte Glücksspielepoche.
Der Charme des Umbruchs weht noch heute durch das Gebäude, an den Wänden hängen Revolutionsfotos. Interimistisch regierte Fidel Castro das Land von seiner Suite im 24. Stock des Hotels aus und gab dem US-TV das legendäre Interview im weißen Pyjama. Ausgewählte Besucher dürfen die Fünfzigerjahremöbel bewundern, die ein halbes Jahrhundert unverändert überdauerten. Das Panoramacafé bietet indes für alle atemberaubende Blicke auf den Küstenboulevard Malecón, der wie ein gelber Strich das Häusermeer von der Karibik trennt.

Karibische Leichtigkeit und Trauer. Dahinter beginnt Habana Vieja, die Altstadt – darin der Prado, offiziell Paseo de Martí, mit dem erhöhten Gehweg in der Mitte, das majestätische Kapitol, das sein US-Vorbild bei weitem übertrifft, die hübsch unsymmetrische Kathedrale, und auch hier wieder überall Musiker mit karibischer Leichtigkeit, in die sich Trauer mischt. Dazwischen Kindergärten, Parteisektionen, offene Innenhöfe und Bankhäuser, die wirken, als habe man ein Hemd bis zum Kragen geschlossen. Havanna ist anders, nein, völlig anders: eine Stadt mit verrückten Überraschungen an jeder Ecke.

Die Ständchen mit Ferkelfleischsandwichs sind noch das Normalste. Der Fuhrpark der Dampf- und E-Lokomotiven neben dem Bahnhof schon absurder. Oder die Statue John Lennons in einem Park im westlichen Vedado, wo der von Castro verehrte Antirevolutionssänger in Bronze, mit fettigen Haaren, auf einer Bank sitzt. Die Gravierung zu seinen Füßen lautet: „Imagine all the people living life in peace“ – auf Spanisch. Lässt sich jemand neben Lennon nieder, kommt sogleich der Brillenmann, ein verschlossener, wortkarger Staatsdiener. Der Brillenmann setzt der Lennon-Statue immer die dünnrandige Hippiebrille auf: „Sie können ihn jetzt fotografieren.“ Verlässt man den Ort, steckt der Brillenmann die Lennon-Brille wieder in seine Brusttasche („Man muss aufpassen. Die Brille ist schon fünf oder sechs Mal gestohlen worden!“) – vorher putzt er sie noch.

Marmor und Wunder. Die Nekropole Cristóbal Colón ist vielleicht der einzige Friedhof Amerikas, den man mit dem Auto befahren kann, gilt zudem als der größte am Kontinent. Neben den Revolutionsmonumenten herrscht hier auf 56 Hektar ein steinerner Konflikt der Kulturen. Größter Partikularbau ist das Mausoleum für die Feuerwehrmänner, die beim Großbrand 1890 ihr Leben verloren. Der Schriftsteller Alejo Carpentier liegt hier ebenso wie Kubas Schachweltmeister José Raul Capablanca, dazu noch hinter viel Granit und Marmor die Grüfte von Generälen, Märtyrern, Parteigranden – und die berühmteste Frau, La Milagrosa, mit bürgerlichem Namen Amelia Goyri, die 1901 während einer Geburt starb und später unverwest exhumiert wurde, wobei das zu ­ihren Füßen begrabene Baby nun in ihren Armen lag. Die Kubaner lieben diese unsozialistische Fabel bis heute und häufen ihr frische Blumen auf.

Noch kürzlich hieß es, Kubaner würden alles und sich selbst verkaufen, aber seit wieder Geld ins Land kommt (Venezuela investiert heftig, aber auch China und Iran), raunen einem nur noch wenige unverwüstliche Zigarrenverkäufer ihre Angebote ins Ohr. Der Weg durch Havannas Straßen ist beinahefrei von Prostitution. Das mag in den Touristengegenden um Varadero, 130 Kilometer östlich der Hauptstadt, anders sein, aber wer muss dorthin? Die Karibikstrände beginnen östlich der Vorstadt Cojimar, sind unaufdringlich, hellsandig und in erster Linie einfach schön. In den kleinen Orten um Santa Cruz del Norte werden abends Fische wie der „pez sierra“, der Sägefisch, gegrillt, und dazu gibt es das gänzlich revolutionäre Bucanero-Bier.

Millionen auf dem Kilometerzähler. Kubas Verkehr hat eine gern kolportierte Eigenheit: den hohen Anteil an US-Straßenkreuzern aus dem 20. Jahrhundert. Diese Exluxusautos, „cachorros“ genannt, die seit fünfzig Jahren ihre Kreise ziehen, wurden von findigen Mechanikergenerationen gepflegt, ausgehöhlt, in Bewegung gehalten und in ihrer Verbeultheit zum nationalen Denkmal erhoben. Einige von ihnen haben eine Million Kilometer auf dem Buckel: Weltrekord. Kenner der Pkw-Geschichte kommen aus dem Staunen nicht heraus, angesichts der untoten Wunderwerke einer versunkenen Epoche: ein Chevrolet Fleetmaster von 1947, ein Ford Thunderbird von 1957, ein Buick Electra von 1959, ein Studebaker Lark von 1960 – aber auch jede Menge Rambler Ambassadors, Mercury Montclairs und Pontiac Chieftain Eights.

Sie zeugen von der jüngeren Geschichte des Landes, und sie tun das stinkend und auf die ihnen eigene, nonchalante Art: Kuba ist die ultimative Wildbahn für die Dinosaurier einer anderen Epoche. 50.000 Stück soll es auf der Insel noch geben, einst waren es an die 200.000, und Kuba ist dadurch das einzige Land der Welt, in dem ein nennenswerter Anteil der Autobesitzer jünger ist als deren Autos. Die Besitzer sind da weniger romantisch als Betrachter von außerhalb: Sie würden die alten Benzinfresser gerne gegen kleine Mazdas und Toyotas tauschen. Jeder, der es sich leisten kann, tut das auch.

Als Besucher gerät man nie in die Verlegenheit, einen Straßenkreuzer zu lenken: staatliches Verbot! Der Verkehr hat seine ehernen Regeln. Ablesbar ist der Fahrerstatus an der Nummerntafellehre: Schwarz für Diplomaten, Weiß für Minister, Grün für das Verteidigungsministerium; Blau bedeutet staatliches, Gelb privates Fahrzeug; Orange die ausländischen Unternehmer und Rot die Leihwagen. Leihwagen bedeutet Abenteuer: Am besten, man übt zuerst ein bisschen, um auf den breiten, spurlosen, kaum befahrenen Autobahnen – manchmal kommen Reiter von rechts in die Quere – nicht in die Schlaglöcher zu geraten.

Erfindergeist. Gäbe es es einen Nobelpreis für Berufsgruppen und ihre Improvisationsgabe, die kubanischen Kfz-Mechaniker hätten längst in Stockholm vorstellig werden können. Mit großem Erfindungsreichtum werden die Karossen auf den Straßen gehalten; bei den meisten sind mehrere Motorenwechsel erfolgt, nur eine liebevolle innere Aushöhlung gewährleistet den Weiterbestand. In vieler Hinsicht ist ihr Innenleben Zeuge des Kalten Kriegs des 20. Jahrhunderts: Originalersatzteile waren nicht greifbar, gelangten durch das seit 1961 bestehende US-Embargo im Gegensatz zu Produkten des Realsozialismus auch nicht ins Land. Und so haben die Straßenkreuzer Lada-Motoren und Wolga-Vergaser.

Grenzenloser Erfindungsgeist: Das Oldtimerthema ging im Jahr 2004 durch die Weltmedien, als elf flüchtende Kubaner Florida in einem amerikanischen Straßenkreuzer erreichten, den sie zum Kleinschiff umgebaut hatten. Sie hatten mit diesem Amphibiengefährt, einem Buick, 145 Kilometer zurückgelegt. Die Türen waren versiegelt, um das Eindringen von Wasser zu verhindern. „Das ­Auto ist sehr sicher“, gab der Fahrer oder Kapitän gegenüber der US-Küstenwache zu Protokoll.  

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