Ungeplant immer neue Meistersinger

Christian Thielemanns Wagner-Serie in der Wiener Staatsoper ist von Viren heftig bedroht.

Der Sänger-Rangierbahnhof im zweiten Stock der Wiener Staatsoper hat derzeit Hochbetrieb. Noch dazu geht es nicht darum, irgendwelche Partien umzubesetzen, sondern um die wichtigsten Rollen in Wagners „Meistersingern von Nürnberg“. Kaum eine Oper des Repertoires ist noch schwieriger zu besetzen. Und ausgerechnet sie hat man dieser Tage fünfmal im Programm, um die alte Otto-Schenk-Inszenierung mit neuen Stars unter Christian Thielemanns Leitung auf DVD zu verewigen.

Johan Botha, der den Stolzing singen soll, hat aber nach dem ersten auch den zweiten Abend der Serie absagen müssen. Michael Schade, der David, der beim ersten Mal durch den quirligen Norbert Ernst ersetzt wurde, war am Mittwoch wieder auf dem Damm. Für Botha jedoch musste wieder Ersatz gesucht werden. Weil der wackere Peter Seiffert diesmal keine Zeit hatte, holte man per Jet den Amerikaner Raymond Very aus New York. Der kam gegen Mittag in Wien an und sollte dann die mörderische Partie singen, was eine Herausforderung der besonderen Art ist, auch wenn man sie in Häusern wie der Dresdner Semperoper – zuletzt unter Fabio Luisi im Oktober 2007 – schon einwandfrei bewältigt hat.

Nun ist Verys schöner lyrischer Tenor alles andere als groß und mächtig. Dass er nicht gar schmächtig wirke, dämpfte Thielemann den philharmonischen Wiener Klang in Pianissimo-Regionen, die lang nicht gehört wurden – und das Orchester lieferte einen sensationellen Beweis für sein außerordentliches Können. Denn den Schwung, die mitreißende Verve von Stolzings Präsentations-Liedern im ersten Akt zu behalten, obwohl die Dynamik in leiseste Bereiche zurückgenommen wird, und auch die Klangschönheit dabei nicht preiszugeben, das zeugt von Weltformat.

Überhaupt war dieser zweite Abend, vielleicht gerade wegen der ungewöhnlichen Anspannung, erzeugt durch fortwährende Rücksichtnahme auf Sängerbedüfnisse, voll der orchestralen Klangwunder, konzentrierter, einiger musiziert als die Premiere. Aufzupassen hatten die Musiker diesmal auch auf den Sachs von Falk Struckmann, dem das Kunststück gelang, darstellerisch nicht einen Moment aus der Rolle zu fallen, obwohl ihn im Mittelakt hörbar eine Indisposition befiel, die bis zuletzt einigen Tribut forderte.

Liedhaft-Schönes von Schade

Michael Schades David freilich gab ein bemerkenswertes, lyrisches Gegenbild zur feinziselierten Charakterisierungskunst seines Kollegen Norbert Ernst, der die erste Vorstellung gerettet hatte: Schade kommt es auf die große Linienführung an, sein Sprüchlein in der Schusterstube wird daher zum liedhaft-schönen Höhepunkt seiner Rollengestaltung.

Angesichts der Blessuren, die dieses „Meistersinger“-Projekt mittlerweile wegen vielfacher Erkrankung und Beeinträchtigung hinnehmen musste (wer am Samstag beim dritten Durchgang auf der Bühne stehen wird, bleibt abzuwarten), versteht der Opernfreund langsam, warum ein Wiener Direktor in den achtziger Jahren befand, der sängergefährdende Jänner sei bei ihm ausschließlich dem Ballett vorbehalten . . . sin

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2008)

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