Radio mit Suchtpotenzial

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Wer hat vor 15 Jahren Hae Min Lee getötet? Der US-Podcast Serial rollt seit Oktober einen Mordfall neu auf – und hat mehr als eine Million ergebene Fans.

Am 13. Jänner 1999 verschwand die 18-jährige Hae Min Lee, eine Schülerin in Baltimore. Vier Wochen später wurde ihre Leiche gefunden, notdürftig verscharrt. Lee war erwürgt worden. Schnell hatte die Polizei Lees Exfreund, den 17-jährigen Adnan Syed, im Visier. Ein Freund vom ihm hatte gestanden, Lees Leiche gemeinsam mit Syed vergraben zu haben. Syed wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt; er sitzt derzeit in einem Hochsicherheitsgefängnis in Maryland ein.

Sarah Koenig erfuhr vor einem Jahr von diesem Mordfall. Irgendetwas stimmte nicht, dachte sich die langjährige Journalistin, die für das preisgekrönte Radioprogramm „This American Life“ arbeitet. Der Schuldspruch beruhte auf einer einzigen, fragwürdigen Zeugenaussage. Und dann war da noch die Shakespeare'sche Dimension des Falls: zwei junge Liebende aus konservativen Einwandererfamilien (Lees Eltern kamen aus Südkorea, jene Syeds aus Pakistan), die ihre Beziehung geheim hatten halten müssen.


Die Renaissance der Podcasts. Also begann Koenig zu recherchieren. Und rasch kam ihr die Einsicht, dass man aus der Neuaufrollung dieses echten Mordfalls ein Radiofeuilleton in mehreren Folgen machen könnte. So entstand „Serial“, ein Podcast, das man seit Oktober jeden Donnerstag gratis aus dem Internet herunterladen kann (Serialpodcast.org). Rasch hat „Serial“ eine ergebene Anhängerschaft gewonnen; durchschnittlich mehr als 1,2 Millionen Mal wird jede Folge heruntergeladen. In Internetforen, allen voran auf Reddit, diskutieren die Fans der Sendung leidenschaftlich (und nicht immer unter Rücksichtnahme auf die Unschuldsvermutung), ob Adnan Hae Lee wirklich getötet hat oder ob der wahre Täter nie gefasst wurde.

„Serial“ ist das erfolgreichste Beispiel der Wiedergeburt des Podcasts, eines Medienformats, das noch vor ein paar Jahren für passé erklärt worden ist. Diese Renaissance liegt vor allem daran, dass man in immer mehr Autos Internetzugang hat. Somit kann man unterwegs digitale Sendungen empfangen, ohne sie eigens auf einem Smartphone oder iPod (von dem der Name Podcast herrührt) speichern zu müssen. Die Hörer im Auto sind eine Captive Audience: ein konzentriertes Publikum. Die Werbekunden wissen, dass man bei so einer Zielgruppe, auch wenn sie im Vergleich zu gewöhnlichem Radio oder Fernsehen kleiner ist, einen stärkeren Eindruck macht.

Deshalb können Podcast-Produzenten derzeit hohe Werbepreise verlangen und finden recht rasch Geldgeber. Vergangene Woche etwa kamen bei einem Investorenaufruf auf Kickstarter mehr als 620.000 Dollar für „Radiotopia“ zusammen, die Plattform des Radiounternehmens PRX, das für die öffentlich-rechtlichen US-Radiosender produziert. Die Macher von „Serial“ wiederum planen bereits eine zweite Staffel; doch zuerst gilt es, Hae Min Lees Mord zweifelsfrei aufzuklären.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2014)

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