Kenneth Roth: "Wir gewinnen die Menschenrechtsdebatte"

(c) EPA (S. SABAWOON)
  • Drucken

Human Rights Watch ist die wichtigste Menschenrechtsorganisation der Welt. Ihr Direktor Kenneth Roth erklärt im Gespräch mit der »Presse am Sonntag«.

Herr Roth, wenn man heute eine Zeitung aufschlägt, kann man angesichts der Weltlage verzweifeln. Wurden die Menschenrechte in jüngerer Vergangenheit jemals an so vielen Orten gleichzeitig missachtet?

Kenneth Roth: Man muss manchmal einen Schritt zurücktreten und eine historische Sichtweise einnehmen. Die Dinge sind in vielen Teilen der Welt viel besser als damals, als ich Anfang der 1980er-Jahre mit der Menschenrechtsarbeit begonnen habe. Denken Sie zum Beispiel an Osteuropa, Lateinamerika, Südafrika oder südostasiatische Länder wie Südkorea und Indonesien. Anderswo ist die Lage heute aber schrecklich. Länder wie Usbekistan oder Turkmenistan sind nicht mehr kommunistisch, aber sie sind so schlimm wie ehedem. Die großen ethnischen Konflikte im Nahen Osten und Zentralafrika sind eine enorme neue Bedrohung für die Menschenrechte. Ich ziehe daraus diese Lehre: Der Kampf für die Menschenrechte erfordert ständige Wachsamkeit. Regierungen sind stets versucht, sie zu verletzen. Ich habe nie daran geglaubt, dass es hier einen linearen Fortschritt gibt.


Was hat sich seit Ihrem Beginn der Menschenrechtsarbeit im Jahr 1981 geändert?

1981 gab es nur Amnesty International, aber die waren klein. Human Rights Watch war mikroskopisch. Die Menschenrechtsbewegung ist heute viel stärker und schlagkräftiger. Sie kann mehr Informationen sammeln und daraus schneller und stärker Druck auf Regierungen ausüben. Sie werden in der Presse bloßgestellt, und sie können vor internationale Strafgerichte gestellt werden. All das gab es damals nicht.


Wir haben es heute in China, Syrien und Russland mit Führern wie Xi, Assad oder Putin zu tun, die sich nicht darum kümmern, ob sie für ihre Menschenrechtsverletzungen schlechte Presse bekommen – von den apokalyptischen IS-Fanatikern ganz zu schweigen. Was tut man da?

IS ist ein Fall für sich: Die sehen ihre eigene pervertierte Form der Scharia als den Standard, an dem sie gemessen werden wollen. IS kann man also nicht an den Schandpfahl stellen. Xi, Assad und Putin dagegen mühen sich allesamt zu erklären, warum sie die Menschenrechte nicht verletzen, wenn sie die Menschenrechte verletzen. Assad leugnet bis heute, dass er Menschen foltern und hinrichten lässt und dass seine Truppen Chemiewaffen und Fassbomben einsetzen. Er lehnt also nicht die Menschenrechtsstandards ab. Er lügt nur darüber, ob er sie einhält. Und sogar China veröffentlicht jährliche Menschenrechtsberichte, in denen es andere Länder kritisiert. Es veranstaltet diese wertlosen Menschenrechtsdialoge mit anderen Regierungen, um sagen zu können: Wir kümmern uns eh darum. Ich bin darum überhaupt nicht der Meinung, dass diese Regierungen sich nicht um Kritik von außen scheren.


Aber das macht es für Sie umso schlimmer: diese Regierungen verwenden die Sprache der Menschenrechte, die Rituale und das Zubehör, aber sie pervertieren deren eigentlichen Sinn. Was tun Sie, um diese Orwellsche Sprache zu korrigieren?

Ehrlich gesagt begrüße ich es, wenn Regierungen anfangen, mit Menschenrechtsstandards solche Spielchen zu spielen. Das bedeutet nämlich, dass sie diese Standards akzeptieren. Damit läuft die Konversation unter unseren Bedingungen. Und wir können dieses Gespräch zurück ins Reich der Tatsachen führen. Die Regierung mag lügen – aber wir können diese Lügen schnell als solche bloßstellen. Normalerweise gewinnen wir die Debatte, wenn das Gespräch auf dieser Ebene läuft.


Die USA waren 1948 die treibende Kraft hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zahlreicher auf ihr aufbauender weltweiter Abkommen. Ist Amerika noch immer der stärkste Anwalt für ihre weltweite Durchsetzung?

Ja. Es ist durch seine eigene Menschenrechtspraxis kompromittiert, aber die USA sind noch immer bereit, weltweit für die Menschenrechte einzustehen, mehr als jedes einzelne europäische Land. Europa ist eine Enttäuschung. Es nutzt seine Macht nicht. Die europäischen Regierungen betrachten ihre gemeinsame Position zu Menschenrechten viel zu oft als Minimalkonsens. Ein Beispiel dafür sehen Sie derzeit im UNO-Menschenrechtsrat in Genf. Da findet Europa zu den Vorgängen in Ägypten – wo die Militärregierung im August 2013 in Rabaa mindestens 817 Demonstranten getötet hat – keine gemeinsame Position, weil Griechenland und Zypern das blockieren.


Wieso?

Jeder hat seine Gründe: Weil wir Ägypten im Kampf gegen den Terrorismus brauchen. Oder weil Ägypten ansonsten den Schiffsverkehr durch den Suezkanal blockieren könnte. Und so verschließen wir die Augen vor einem Massaker, das schlimmer war als jenes in Peking 1989 rund um den Tian'anmen-Platz. Ägypten ist heute hinsichtlich der Menschenrechte schlimmer als während der Mubarak-Diktatur – aber kein europäisches Land traut sich, das laut zu sagen.


Die Europäer würden dann für die Menschenrechte der Moslembrüder eintreten, die sich selbst nicht um die Menschenrechte von Frauen, Anhängern anderer Religionen und Homosexuellen kümmern würden, sobald sie wieder an die Macht kämen.

Als die Moslembrüder in Ägypten an der Macht waren, gab es zweifellos Menschenrechtsprobleme. Wir haben die auch kritisiert. Aber sie verblassen angesichts der außergewöhnlichen Repression, die wir seit dem Militärcoup sehen. Es gab Probleme – aber jedes dieser Probleme ist heute unter General Sisi schlimmer als damals.


Wenn man Ihnen auf Twitter folgt, hat man den Eindruck, Sie lebten rund um die Uhr für die Menschenrechte. Was war Ihre ursprüngliche Motivation?

Zweierlei. Erstens ist mein Vater vor den Nazis aus Deutschland geflohen. Ich bin also mit dem tiefen Bewusstsein für das ultimative Böse aufgewachsen, das Regierungen anstellen können. Und ich wollte etwas dagegen tun. Zweitens bin ich zu einer Zeit aufgewachsen, in der Jimmy Carter die Menschenrechte als Teil der US-Außenpolitik einführte. Ich war gewissermaßen ein Produkt der 1960er-Jahre, aber zu jung, um in ihnen gelebt zu haben. Ich bin mit dem Bedürfnis aufgewachsen, etwas mit meinem Leben anzufangen, an das ich glauben kann.


Carter wird oft als schwacher Präsident kritisiert und selten für seine Förderung der Menschenrechte gelobt.

Als er ins Amt kam, herrschte in den USA ein großer Illusionsverlust, wegen des Vietnamkrieges und der Enthüllungen über die Missbräuche der CIA in Ländern wie Iran oder Guatemala. Man hatte das Gefühl, dass die reine Realpolitik ins Desaster geführt hatte. Und man suchte ernsthaft nach etwas Positivem, für das die USA in ihrer Außenpolitik stehen konnten. Carter hat begriffen, dass das eine neue moralische Basis für die USA bilden könnte. Reagan hat danach sofort versucht, das zu hintertreiben. Jean Kirkpatrick, seine UN-Botschafterin, führte zum Beispiel die Unterscheidung zwischen „totalitären“ und „autoritären“ Regierungen ein. Totalitär war, wer kommunistisch war. So eine Regierung konnte man nur lückenlos ablehnen. Mit einer autoritären Regierung hingegen – also einer uns freundlich gesonnenen rechten Regierung – konnte man arbeiten. So rechtfertigte Reagan seine Doppelmoral. Aber er machte eine Entwicklung durch, als er begann, ständig von Demokratie zu sprechen. Dann musste er sich an seinen Worten messen lassen. Und so stellte er sich letztlich gegen Pinochet in Chile und orchestrierte die Entmachtung von Marcos auf den Philippinen und Duvalier in Haiti.


Manche Kritiker sprechen von einer Inflation der Menschenrechtsabkommen. Ihr Argument: Wenn es ein Menschenrecht auf alles gibt, gibt es kein Menschenrecht auf irgendetwas. Stimmt das?

Ich verstehe die Kritik, aber sie ist übertrieben. Viele der neueren Verträge schützen die Rechte von Menschen, die bisher stets übersehen wurden. Denken Sie nur an das aktuellste Beispiel des Abkommens für Menschen mit Behinderungen, das neulich vom 150. Staat unterzeichnet wurde. Die Rechte dieser Menschen hätten schon seit Langem geschützt werden sollen. Das ist also eine völlig positive Entwicklung. Was wiederum wirtschaftliche und soziale Rechte betrifft: Da gab es seit 1966 keine neuen Verträge mehr. Und selbst diese Abkommen sprechen nur von schrittweiser Verwirklichung dieser Rechte. Sie anerkennen, dass es nicht endlos viel Geld gibt, sondern nehmen die Regierungen in die Pflicht, ihre Ressourcen weise einzusetzen, um die Rechte ihrer Bürger zu respektieren. Und das ist kein utopisches Ziel.

Herr Roth, darf man Sie auch fragen . . .

1 . . . welches für Sie persönlich das wichtigste Menschenrecht von allen ist?
Das wichtigste ist klarerweise jenes, nicht standrechtlich hingerichtet zu werden. Aber die Rechte hängen alle miteinander zusammen: Die Menschen brauchen das Recht auf Schutz ihrer Lebensgrundlagen ebenso wie darauf, frei sprechen und sich organisieren zu dürfen, um ihre Regierungen zur Verantwortung ziehen zu können.

2 . . . was Sie dem syrischen Machthaber Assad sagen würden, wenn Sie ihn träfen?
Wir haben vor einem Jahr überlegt, ein Treffen mit ihm zu organisieren. Das Wichtigste, was ich ihm sagen würde, ist: Wir durchschauen seine Lügen.

3 . . . ob Sie jemals das Haus Ihres Großvaters in Frankfurt am Main besucht haben?
Ja, mit 16, mit meinen Eltern. In der Gemeinde Nieder-Ohmen fanden wir Gräber unserer Familie. Manche dort kannten meinen Großvater noch.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.