Giancarlo De Cataldo und Carlo Bonini: "Wir tanzen am Rande eines Vulkans"

Das italienische Autorenduo Giancarlo De Cataldo und Carlo Bonini erklärt, warum Richter und Journalisten in Italien dunkle Krimis schreiben und die anständigen Bürger Kriminelle immer mehr bewundern.

Mit dem Krimi „Suburra“ haben Sie die Realität buchstäblich herbeigeschrieben: Im Herbst, ein Jahr nach der Veröffentlichung, deckten Ermittler in Rom Mafia Capitale auf, ein kriminelles Netzwerk mit Kontakten nach ganz oben. Personen und Begebenheiten schienen eins zu eins aus Ihrem Buch entnommen. Wie haben Sie sich gefühlt?

Giancarlo De Cataldo: Wir waren nicht überrascht. Schon lange gab es in Rom Anzeichen für eine eigene, „lokale“ Mafia. Es gab zahlreiche verdächtige Bauprojekte, etwa das Vergnügungsviertel Waterfront in Ostia. Und dann noch all die Berichte über korrupte Parlamentarier und Priester mit ihren Escort-Girls – wunderbar passten die in unser Konzept. Und als wir schließlich die Figur des Bandenbosses entwickelten, entschieden wir uns nicht zufällig für Samurai – einen Neo-Faschisten, Ex-Mitglied der rechtsradikalen Magliana-Bande, der die Ideologie hinter sich gelassen hatte und nur ans Geld dachte. So einer, dachten wir, verherrlicht sicher auch das alte Japan: Das hatten wir wirklich erfunden.

Beim Boss von Mafia Capitale, dem ehemaligen rechtsradikalen Terroristen Massimo Carminati, fand man zu Hause tatsächlich ein Samurai-Schwert.

Carlo Bonini: Angeblich hat er das Schwert nach der Veröffentlichung von „Suburra“ geschenkt bekommen.

Hauptberuflich arbeiten Sie als Richter (De Cataldo) und Journalist (Bonini). Wieso haben Sie beschlossen, Italiens dunkelste Seite in einem Roman zu beschreiben?

Bonini: Es war nicht einfach, in den letzten 20 Jahren als Journalist in Italien zu arbeiten: Man wurde schnell verklagt, und in Italien kann ein Verfahren bis zu 20 Jahren dauern. Deshalb beschreiben immer mehr Journalisten die Realität mittels Romanen. Dadurch kann man Dinge sagen, über die man sonst nicht berichten könnte, und Sachverhalte darstellen, die an sich plausibel sind, für die es aber keine Beweise gibt. Und natürlich erreicht man mehr Menschen mit einem Krimi als mit einem Artikel.

Richter und Journalist: Für Silvio Berlusconi waren diese Berufe der Inbegriff des „roten Teufels“. Bekamen Sie das zu spüren?

De Cataldo: Ich hatte ein unverschämtes Glück: Berlusconi ist mir nie über den Weg gelaufen. Doch ich hatte damals das Gefühl, dass der Respekt vor dem Gesetz täglich ein Stück mehr zerbröckelte, dass Rechtsanwälte und Angeklagte immer arroganter wurden.

Bonini: Ich hingegen habe Berlusconis Politik stark zu spüren bekommen. Berlusconi wusste, wie er seine Kritiker zahnlos macht. Er ließ sie weiter arbeiten. Aber er sorgte dafür, dass ein Urteil oder ein Artikel in Leere fielen, wirkungslos wurden: Fakten zählten nichts mehr, sie wurden zu einer „Meinung“ reduziert. Es genügte, dass nach einem kritischen Artikel oder einer Anklage jemand brüllend in einer TV-Sendung widersprach. Zum Glück ist diese Zeit vorbei. Doch Italiens Journalismus leidet heute noch darunter, er wurde damals diskreditiert.

De Cataldos Bestseller, „Romanzo Criminale“, spielt in der römischen Unterwelt der 1970er- und 1980er-Jahre. Wie haben sich die „Bösen“ seitdem verändert?

De Cataldo: Der Abstand zwischen den „anständigen Leuten“ und den Kriminellen ist heute deutlich geringer als damals. In den letzten Jahrzehnten wurden die Rollen ausgetauscht: Die Bösen von „Romanzo Criminale“ träumten, im Bett zu sterben, wie anständige Bürger. In der „Suburra“-Ära hingegen bewundern die Anständigen die Gauner. Weil sie überzeugt sind: Es lohnt sich, kriminell zu sein.

Bonini: Wie sehr das stimmt, zeigt ein Gespräch, das im Zuge der Mafia-Capitale-Ermittlungen abgehört wurde. Da telefonierte Boss Carminati mit einem jungen Unternehmer. Der Unternehmer sagte: „Ich will auch in einem Buch vorkommen, genauso wie du.“ Carminati: „Aber das führt direkt ins Gefängnis.“ Der andere: „Das ist mir egal.“ Kriminalität hat heute eine starke Anziehungskraft.

Kommt das vom Berlusconismo?

Bonini: Die Frage ist, was vorher war – ob Berlusconi Italien verdorben hat oder ob er das Produkt seiner Zeit war, die „Autobiografie einer Nation“. Ich tendiere zur letzten Interpretation.

De Cataldo: Im Italien der 1990er-Jahre hat sich ein politisches Vakuum gebildet, und die Italiener suchten sich diesen Herren aus, der sie perfekt repräsentierte. Politisch hat Berlusconi nicht viel weitergebracht, aber sein kulturelles Erbe ist enorm: Er hat uns gleichgültig gegenüber Dingen gemacht, für die wir uns früher geschämt hatten. Die Schmerzgrenze ist gestiegen. Das haben wir gesehen, als „Suburra“ veröffentlicht wurde. Keiner hat gesagt: Wir müssen etwas tun gegen diesen enormen Müllberg, auf dem wir sitzen.

Unter Matteo Renzi wird jetzt alles anders?

De Cataldo: Es ist tatsächlich eine neue Phase, ein anderes Italien. Renzi gehört einer neuen Generation an, dieses ganze Mafia-Capitale-Zeug ist ihm fremd. Als die sizilianische Mafia 1992 Bomben legte, war Renzi gerade 18 Jahre alt. Die Frage ist jetzt, wie viel von dem „Alten“ überleben wird.

Italien reformieren – geht das überhaupt?

Bonini: Das wird viel Arbeit und Zeit kosten. Renzi ist jung, er hatte noch nicht die Zeit, erpressbar zu werden (wie Berlusconi es war). Vielleicht sieht das in 15 Jahren anders aus. Wir müssen abwarten und sehen, ob diese neue politische Klasse tatsächlich etwas verändern wird. Oder sich doch nur an das Alte anpasst, wie üblich.

Mit Berlusconi hat Renzi bereits paktiert.

Bonini:Renzi verhandelt mit allen. Er ist ein Postideologe: Seine Demokratische Partei (PD) ist ein Container, der alles enthält. In dieser Partei gibt der Leader Ton, Richtung, Stil an – ganz ähnlich wie bei den US-Demokraten.

Aber Sie haben Ihre Zweifel: Am Ende von „Suburra“ gründet Temistocle Malgradi, der korrupte Bruder des korrupten Politikers, eine Partei der „Erneuerung“.

De Cataldo:Temistocle Malgradi kommt in unserem neuen Buch vor. Er ist jetzt Star der Linksdemokraten (PD). Ob er erfolgreich sein wird, das verraten wir Ihnen nicht. Aber wir wissen es schon.

Was genau ist Mafia?

De Cataldo: Leonardo Sciascia (sizilianischer Schriftsteller, Anm.) sagte, „Mafia ist, wenn man Gruppeninteressen zum Schaden der Allgemeinheit verfolgt.“ Das gilt heute mehr denn je. Leider wird die Mafia immer noch als ethnisches Phänomen, als typisch süditalienisch angesehen. Das ist sie schon lange nicht mehr. Die Mafia hat sich in ganz Europa ausgebreitet, viele Länder wollen das nur noch nicht wahrhaben .

Lange wollte auch niemand wahrhaben, dass Rom eine eigene Mafia hat. Was wird nun nach den Ermittlungen von Mafia Capitale in den Straßen Roms passieren?

De Cataldo: Sie werden versuchen, die Mafia neu zu gründen. Und wir, der Staat, werden versuchen, das zu verhindern. Die Ermittlungen gehen weiter, der neue Bürgermeister hat sich offen zum Feind dieser Welt erklärt und bereits starke Zeichen gesetzt. Aber wir kennen das: Ist die Mafia in Gefahr, steckt sie den Kopf in den Sand und wartet ab. Man wird sehen, was passiert. Die Tragödie Italiens ist, dass wir es nie geschafft haben, der Mafia den Gnadenstoß zu erteilen, wenn sie in Schwierigkeiten war. Wir haben immer zugelassen, dass sie ihre Wunden heilt. Aber hoffen wir das Beste für Rom: Es gibt gute Richter, die politische Welt ist unter Schock, und wir haben einen neuen Papst. Kurz: Die Erneuerung ist da. Trotzdem tanzen wir weiterhin am Rande eines Vulkans.

Sie haben in „Suburra“ sehr explizit real existierende Personen und Tatsachen beschrieben. Sind Sie jemals bedroht worden?

De Cataldo: Nein. Aber es gab giftige Attacken einer gewissen Presse, als das Buch erschienen ist. Sie sagten, wir hätten das Buch geschrieben, um meine Richterkollegen davon zu überzeugen, dass es eine Mafia in Rom gebe, die aber in Wahrheit gar nicht existiere.

„Suburra“ ist auch ein Roman über Wirtschaftskrise und Ausweglosigkeit. Würden Sie den Jungen raten, Italien zu verlassen?

Bonini: Wir verlieren gerade unsere besten Köpfe. Italien belohnt die Mittelmäßigkeit. Aber wer besser ist, wird bei uns als Bedrohung angesehen.

De Cataldo: Mein Sohn ist 22 Jahre alt, er ist ein Musiker. Er geht seinen Weg allein, und darauf bin ich stolz. Er hat immer gesagt: Ich mache Erasmus, ich gehe ins Ausland. Aber bisher hat er sich nur nur vom Viertel Prati ins Viertel San Lorenzo bewegt. Aber die Römer sind eigen, die wollen Rom nicht verlassen. Trotz allem.

Steckbrief

Giancarlo De Cataldo
wurde 1956 im süditalienischen Taranto geboren, er lebt und arbeitet in Rom. Er ist Richter am Berufungsgericht. De Cataldo ist einer der bekanntesten italienischen Krimi-Autoren der Gegenwart: Sein Bestseller „Romanzo Criminale“ wurde für das Kino und später als TV-Serie verfilmt. Den Rom-Mafia-Krimi „Suburra“ verfasste De Cataldo gemeinsam mit dem Journalisten Carlo Bonini.

Carlo Bonini
wurde 1967 in Rom geboren, er ist einer der bekanntesten Aufdeckerjournalisten des Landes. Derzeit schreibt er für die Tageszeitung „La Repubblica“. Bonini hat sich unter anderem einen Namen gemacht, als er gemeinsam mit einem Kollegen die Entführung des radikalen Imams Abu Omar in Mailand durch die CIA im Jahr 2003 aufdeckte. Boninis Buch „ACAB. All Cops Are Bastards“ über die italienische Polizei wurde verfilmt.

Signori, darf man Sie auch fragen...


1. . . ob Italien Helden hat?

De Cataldo: „Mein Held ist der frühere italienische Präsident (und Ex-Partisan) Sandro Pertini. Boninis Held ist Francesco Totti.“ Bonini: „Stimmt nicht. Mein Held ist (der von der Mafia ermordete) Mafiajäger Paolo Borsellino. Weil er genau wusste, dass er dem Tod entgegenging.“


2. . . ob Sie ein Lieblingsporträt von Rom haben?

De Cataldo: „Mein Rom ist der „Satyricon“ von Petronius.“ Bonini: „Und meines ist Pasolinis Rom, auch wenn es sich stark verändert hat.“


3. . . ob es schwierig ist, wenn zwei so berühmte Autoren ein Buch gemeinsam schreiben?


De Cataldo: „Im Gegenteil, es ist schön. Bei ,Suburra‘ haben wir erst das Konzept entwickelt und dann die Arbeit aufgeteilt. Am Ende haben wir uns den Text gegenseitig vorgelesen, um den Stil zu homogenisieren. Das hat so gut funktioniert, dass wir es wieder versuchen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2015)

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