Das Liebesleben auf Skiern

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Skilehrer seien moderne Don Juans, heißt es in einem neuen Aufregerbuch. Doch in Wahrheit geht es nicht um die Person, sondern um den Ort.

Es gibt eine feine Linie zwischen lustig und peinlich. Zwischen dem, worüber man noch lachen kann, und dem, wofür man sich schon schämt. Die Grenze ist nicht fließend oder schwammig, sie ist ziemlich klar gezogen: Bei 50 Jahren beispielsweise und bei 100 Kilogramm.

Der Engländer, der ausgelassen auf dem Tisch tanzt, hat beide Grenzen überschritten. Zwischen roter Skihose und weißem Softshell lugt ein Teil seines kugelrunden, ziemlich behaarten Bauches hervor, der mit den heftigen Tanzbewegungen etwas außer Takt auf- und ab-, hin- und herschwappt. In der linken Hand hält er ein Bier, die rechte fuchtelt durch die Luft, als dirigiere sie die ausgelassene Menge.

„But the biggest kick I ever got/was doing a thing called the Crocodile Rock“, singt Elton John aus dem Lautsprecher, und der Engländer brüllt voller Leidenschaft mit. Das hat er vermutlich auch schon 1972 getan, als das Lied zum ersten Mal in der Hitparade war. „Mike has a great day“, erklärt Steve. Mike vielleicht schon. Die meisten, die ihn sehen, eher nicht.

Aber das ist das „Krazy Kanguruh“ in St. Anton, und hier gelten andere Gesetze, vor allem zwischen 16 und 20Uhr zur Après-Ski-Zeit. Deswegen findet Irene Mike auch „really funny“, vielleicht an diesem Abend auch noch mehr. Und dafür muss er nicht einmal ein Skilehrer sein.

Moderne Don Juans. Skilehrer, lesen wir im derzeitigen Aufregerbuch „Schneeverhältnisse“, seien die modernen Don Juans. Es genüge mehr oder weniger, im Anorak aufzutreten, schon sinken die Damen reihenweise dahin, schreibt Autor Alexander Sever.

Über Sex zu schreiben ist ziemlich in, seit Charlotte Roche in „Feuchtgebiete“ detailverliebt ihr Liebesleben schilderte, das offenbar Millionen Deutsche (und auch ein paar Österreicher) interessierte. Angeregt vom Bestseller setzten die Verlage auf weitere Enthüllung: In „Nacktbadestrand“ geht es um Sex im Alter, den nicht mehr ganz so viele Menschen interessant fanden, in „Schoßgebete“ um Sex in der Ehe, und jetzt eben in „Schneeverhältnisse“ um Sex auf der Piste.

„So a Bledsinn“, rezensiert Frank Widmann das Buch. Er ist einer der Chefs der Skischulen Arlberg und St.Anton, die gemeinsam etwa 320 Skilehrer stellen, und seit Jahrzehnten im Job. Natürlich habe man früher „Gas gegeben“. Aber die Zeiten seien vorbei, „der Job ist viel härter geworden, Spaßskilehrer gibt's nicht mehr“. Das kann man glauben, vielleicht aber folgt Frank Widmann auch nur den Regeln des heiligen Benedikt, für den Diskretion die höchste Tugend war.

Die Skilehrer will man jedenfalls erst gar nicht in Versuchung führen, als „Après-Skilehrer“, wie es Widmann nennt, auf die Gaudi zu gehen. Es gibt strikte Vorschriften für die Saisonarbeitskräfte aus Dutzenden Nationen, darunter sogar zwei Skilehrer aus Japan: „Nach 19 Uhr“, steht im Handbuch der Skischule, das auch zu Freundlichkeit und Pünktlichkeit mahnt, „ist das Tragen des Skilehreranzugs verboten.“ Das Wort „verboten“ ist fett hervorgehoben.

Ob der Anzug allein schon Wirkung tut, bleibt vor allem deswegen dahingestellt, weil die Promiskuität in den Skigebieten wenig mit den Skilehrern zu tun hat. Sagt die Wissenschaft. Es gehe vielmehr um die Skihütten, meint der Soziologe Roland Girtler. Das würde auch erklären, warum jemand wie Mike attraktiv wirkt. „Die Almhütten waren immer ein Ort der Freiheit“, betont Girtler. „Schon in den 1950er-Jahren haben sie oben auf den Hütten unanständige Lieder gesungen, die man sich unten im Tal nie zu singen getraut hätte.“

Die Skihütten sind die modernen Almen, und die Skilehrer, ja, ein wenig seien sie die modernen Wilderer. Die waren einst „die Chefs“, vor allem die Gamswilderer, die mitten im Winter illegal auf die Jagd gegangen seien. „Das waren die wilden Burschen, das hat den Mädls gefallen.“ Die Skilehrer, erklärt der Soziologe, hätten auch „ein bisschen etwas Heldenhaftes. Sie strahlen eine Lebensfreude aus, sind braun gebrannt, schneidig und fesch: Genau so wie der Hansi Hinterseer.“ Dieser Vergleich wird einigen Skilehrern gar nicht gefallen. Aber mehr gehe es um die Hütte in den Bergen. Auch er selbst, gesteht Girtler, habe einst auf einer Alm, obwohl weder Wilderer noch Skilehrer, seinen ersten Kuss bekommen.

In St. Anton will man von alldem nichts wissen, obwohl man mit dem Mooserwirt „die Mutter aller Skihütten“ hat, wie der „Playboy“ einst schrieb, als dessen Urteile noch wichtig waren. „Bei uns steht das Skigebiet im Vordergrund, nicht das Nachtleben“, erklärt Martin Ebster, Geschäftsführer des Tourismusverbandes. Tatsächlich kommen auf über eine Million Nächtigungen pro Jahr gerade einmal vier erwähnenswerte Bars. Die Ansprüche der Gäste, meint Ebster, seien in St. Anton in erster Linie sportlicher Natur.


Das „Ibiza der Alpen“. Etwa vierzig Fahrminuten von St. Anton entfernt ist das sichtlich anders. Nirgendwo sind die Pisten so leer, wie an einem Vormittag in Ischgl. Und der Grund dafür ist unter anderem der Kuhstall: In der Bar sind um Mitternacht so viele Menschen wie um neun Uhr in der Früh in St. Anton vor der Galzigbahn. Und das sind beeindruckende Massen.

„Biiiiiiier!“, schreit einer beim Eingang, und leert sich das halb volle Glas über den Kopf. Seine Freunde johlen vor Spaß. Das war nicht das Ausgefallenste, das man an diesem Abend gesehen hat. Wenn irgendeiner der vielleicht 300 Gäste weniger als 0,8 Promille hat, dann ist das Messgerät kaputt.

Das kleine Bergdorf hat sich als „Ibiza der Alpen“ positioniert, manche meinen, es habe die Grenze schon überschritten und sei mehr ein Mallorca. „Wir haben vor zehn Jahren den Mut gehabt, klar zu sagen, welche Zielgruppe wir ansprechen wollen: die Junggebliebenen, die Spaß und Unterhaltung suchen“, sagt Tourismuschef Andreas Steibl. „Wer einen ruhigen Familienurlaub machen will, ist bei uns falsch.“

Auch wenn sich einige Gäste bei so viel Spaß doch irgendwann nach Normalität sehnen, wie man auf der Website des Kuhstalls lesen kann. „Kennt jemand einen Arno aus Trier?“, schrieb Nina ins Gästebuch. „Ich würde ihn gern mal nüchtern sehen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2012)

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