Navid Kermani: Warum hast du uns verlassen?

Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt. Meine Tochter früher in der Grundschule unterm Kreuz zu wissen, war unangenehm. Wenn ich in einer Kirche bete, achte ich darauf, nicht zum Kreuz zu beten.

Aus Versehen stieg ich genau vor der Kirche San Lorenzo in Lucina aus dem Bus, der mir zum ersten Mal in Rom nicht vor der Nase abgefahren war, so glücklich hatte der Tag bereits begonnen. Wie ich mich auf der Karte orientierte, empfahl mir der Kunstreiseführer einen Blick auf die „Kreuzigung“ von Guido Reni, die eines seiner Meisterwerke sei. Ich konnte mich an kein anderes Meisterwerk Renis erinnern, assoziierte nur Andachtskarten, Amen, Antipode Caravaggios, aber dankbarer sollte ich dem Kunstreiseführer selten sein.

Als Nachdruck hat das Gemälde immer noch etwas von einem Andachtsbild, wie es die Zigeuner vor den Kirchen für 50 Cent verkaufen, als gewaltige Leinwand auf dem Hochaltar der Barockkirche, wo es schwarz-goldene Säulen, ein Plüschvorhang, dicke Engel und elektrische Kerzen umrahmen, ist Renis „Kreuzigung“ ein Aufruhr, gerade indem es der Verklärung des Schmerzes widerspricht. Gewiss stößt mir die Lust, die katholische Darstellungen seit der Renaissance an Jesu Leiden haben, auch deshalb so auf, weil ich es von der Schia kenne und nicht kenne. Ich kenne es, weil das Martyrium dort genauso exzessiv bis hin zum Pornografischen zelebriert wird, und ich kenne es nicht, weil genau dieser Aspekt der Schia in Großvaters Glauben, der mehr als jeder andere Bezugspunkt meine eigene religiöse Erziehung bestimmt hat, wie ich bei der Lektüre seiner Memoiren feststelle, keine Rolle spielte, ja als Volks- und Aberglauben abgelehnt wurde, der die Menschen davon abbringe, die Welt zu verbessern, statt nur ihren Zustand zu beklagen.

Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt. Nicht dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf. Es ist eine Absage. Gerade weil ich ernst nehme, was es darstellt, lehne ich das Kreuz rundum ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich, ein Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen, die wir genießen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen. Ich kann im Herzen verstehen, warum Judentum und Islam die Kreuzigung ablehnen. Sie tun es ja höflich, viel zu höflich, wie mir manchmal erscheint, wenn ich Christen die Trinität erklären höre und die Wiederauferstehung und dass Jesus für unsere Sünden gestorben sei. Der Koran sagt, dass ein anderer gekreuzigt worden sei. Jesus sei entkommen. Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie.


Meine Tochter früher in der Kirche zu wissen, wo sie als Grundschülerin gelegentlich die Fürbitte las, weil sie so gut lesen konnte und so eitel war, auf jeder Bühne stehen zu wollen, selbst wenn sie dafür eine Stunde früher aufstehen musste, meine Tochter unterm Kreuz zu wissen, war unangenehm. Natürlich sagte ich nichts, schließlich ist man liberal. Eingegriffen habe ich nur bei der Messe zur Einschulung, als die Kinder Hostien essen sollten, gleich welchen Glaubens. Da wünschte ich mir, die Kirche sei weniger liberal.

Wenn solche Vorgänge für mich nur Kindereien wären, hätte sie sich auch bekreuzigen können. Für mich aber ist das Kreuz ein Symbol, das ich theologisch nicht akzeptieren kann, akzeptieren für mich, meine ich, für die Erziehung meiner Kinder. Andere mögen glauben, was immer sie wollen; ich weiß es ja nicht besser. Ich jedoch, wenn ich in der Kirche bete, was ich tue, gebe acht, niemals zum Kreuz zu beten. Und nun saß ich vor dem Altarbild Guido Renis in der Kirche San Lorenzo in Lucina und fand den Anblick so berückend, so voller Segen, dass ich am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man –, ich könnte an ein Kreuz glauben.


Reni verklärt nicht den Schmerz, den er nicht zeigt. Ihm gelingt, was andere Jesusdarstellungen behaupten: Er führt das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische über. Sein Jesus hat keine Wunden, keine Abzeichen der Striemen und Hiebe, er ist schlank, aber nicht abgemagert. Selbst wo seine Hände und Füße ans Kreuz genagelt sind, fließt kein Blut. Wären die Nägel nicht, es sähe aus, als breite er die Hände zum Gebet aus. Er blickt in den Himmel, die Iris aus dem Weiß des Auges beinah verschwunden: Schau her, scheint er zu rufen. Nicht nur: Schau auf mich, sondern: Schau auf die Erde, schau auf uns. Jesus leidet nicht, wie es die christliche Ideologie will, um Gott zu entlasten, Jesus klagt an: Nicht, warum hast du mich, nein, warum hast du uns verlassen?
Die Landschaft ist christianisiert, so dass nicht die Menschen geschieden sind in Tätervolk und Opfervolk wie im Neuen Testament, sondern Himmel und Erde, Gott und die Menschen. Der Totenkopf am Kreuz deutet darauf hin, dass hier schon andere gestorben sind; die zeitgenössisch gekleideten Spaziergänger in verdüsterter italienischer Landschaft geben zu verstehen, dass auch jetzt gestorben wird; die Häuser im Hintergrund mit der Kuppel, die der Petersdom sein könnte, weisen auf die Stadt, aus welcher der Gekreuzigte zu stammen scheint. Dieser Jesus ist nicht Sohn Gottes und nicht einmal sein Gesandter. Gerade weil sein Schmerz kein körperlicher ist, nicht Folge denkbar schlimmster, also ungewöhnlicher, unmenschlicher Folterungen, stirbt dieser Jesus stellvertretend für die Menschen, für alle Menschen, ist er jeder Tote, jederzeit, an jedem Ort. Sein Blick ist der letzte vor der Wiederauferstehung, auf die er nicht zu hoffen scheint.

Dieser Artikel von Navid Kermani erschien ursprünglich in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 14. Mai 2009, Nr.61 (Literatur und Kunst).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2009)

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