Die Debatte über Polizeigewalt verlagert sich zur Frage, wie sich Polizeirassismus eindämmen lässt. Dafür gibt es Vorbilder, an denen sich die Bundesregierung nun orientiert.
Washington. Ein weißer Polizeibeamter erschießt einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen: Als das im Frühjahr 2001 in der Stadt Cincinnati (Ohio) zum dreizehnten Mal binnen sieben Jahren passierte, kochte der Volkszorn über. Vier Tage lang lieferten sich Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei, plünderten Chaoten Geschäftslokale und gingen etliche Häuser in Flammen auf. Bürgerrechtsgruppen verklagten die örtliche Polizeibehörde wegen angeblich rassistischer Methoden bei der Anhaltung und Verhaftung von Verdächtigen. Seit den enormen Ausschreitungen in Los Angeles nach der Misshandlung des unbewaffneten Schwarzen Rodney King durch Polizisten im Jahr 1992 hatten die USA nicht mehr so gewalttätige Ausschreitungen zwischen Polizei und Bürgern gesehen.
Dann ergriff die Bürgerrechtsabteilung im Justizministerium die Initiative. Sie begann ein Ermittlungsverfahren, um etwaige diskriminierende Muster in Cincinnatis Polizeiarbeit zu entdecken. Im Jahr darauf einigten sich Justizministerium, die Stadtregierung und die Polizeibehörde auf ein Reformpaket. Die Exekutive verpflichtete sich zu Maßnahmen, die den Einsatz von körperlicher Gewalt, chemischen Reizstoffe, Diensthunden und Feuerwaffen einschränkte. Sie änderte auch die Dienstanweisungen für die Festnahme von Verdächtigen; vor allem sollte nicht jeder Jugendliche, der beim Rauchen einer Haschischzigarette erwischt wird, bloß aus diesem Grund verhaftet werden.
Die Maßnahmen wirkten, und sie waren sowohl für die überwiegend schwarze Bevölkerung in den ärmeren Stadtteilen von Cincinnati als auch für die Polizisten positiv: Binnen fünf Jahren halbierte sich die Zahl der Fälle, in denen es bei Amtshandlungen zur Gewaltanwendung kam. Allein die Dienstanweisung, Taser statt Pistolen oder Pfefferspray zu verwenden, um widerspenstige Verdächtige zu stoppen, senkte die Zahl der Verletzungen von Polizeibeamten um 56 Prozent (Taser wirken nämlich auf weitere Entfernung als Pfefferspray, man muss einen Angreifer also nicht so nahe an sich herankommen lassen) und jene von Verdächtigen um 35 Prozent, legte der Strafrechtsexperte Elliot Harvey Schatmeier 2013 in einer Studie für die Columbia University in New York dar.
Polizist Wilson hat reines Gewissen
Cincinnatis Beispiel schwebt Präsident Barack Obama und den zuständigen Stellen im Justizministerium vor, die sich mit den Vorgängen in Ferguson (Missouri) knapp vier Monate nach dem Tod des schwarzen Jugendlichen Michael Brown durch zumindest sechs Kugeln aus der Dienstwaffe des weißen Polizisten Darren Wilson befassen.
Denn Wilson selbst wird rechtlich kaum zu belangen sein. Am Montag beschloss eine Geschworenenbank, dass kein begründeter Verdacht gegen den 28-jährigen Beamten vorliege, ihn wegen Mordes, Totschlags oder eines sonstigen Verbrechens anzuklagen. Dieser Persilschein hatte in der Nacht auf Dienstag zu schweren Ausschreitungen in Ferguson geführt, bei denen Krawallmacher auf die Polizei schossen, zwei Streifenwagen und mindestens ein Dutzend Geschäfte anzündeten und eifrig plünderten.
Die zweite Nacht nach der Verkündung des Geschworenenbeschlusses brachte großteils friedliche Kundgebungen in mehr als 150 amerikanischen Städten und verlief in Ferguson weniger gewalttätig, die Polizei nahm allerdings mindestens 45 Menschen vorläufig fest. Wilson äußerte sich erstmals seit dem Ereignis vom 9. August öffentlich in einem Interview mit dem Fernsehsender ABC. Er habe ein reines Gewissen und würde jederzeit wieder so handeln. Brown habe ihn angegriffen, nach seiner Waffe gelangt und sich selbst nach mehreren Schüssen der Aufforderung widersetzt, sich auf den Boden zu legen. „Er wollte mich töten“, sagte Wilson.
Wohl keine Anklage wegen Rassismus
Ob das stimmt und ob Wilson alles Menschenmögliche getan hat, um den Tod von Brown zu vermeiden, wird sich nicht zweifelsfrei ermitteln lassen. Ein Strafverfahren gegen ihn wird es nach dem Geschworenenbeschluss nicht geben, und eine Klage des Justizministeriums, die auf eine Verletzung der Bürgerrechte Browns durch Wilsons Amtshandlung abzielt, ist mangels Beweisen dafür, dass Wilson in rassistischer Absicht gehandelt haben könnte, unwahrscheinlich.
Präsident Obama weiß das, und darum versucht er, die Debatte in Richtung einer über systematische Reformen zu lenken. Ein „Pattern of Practice“-Verfahren, wie es in Cincinnati zu einer Verbesserung geführt hat, dauert allerdings mehrere Monate. Ob sich der Volkszorn in Ferguson so lang im Zaum halten lässt, ist fraglich.
ZUR PERSON
Darren Wilson (28) ist jener Polizist, der am 9. August dieses Jahres den 18-jährigen unbewaffneten Schwarzen Michael Brown in der 20.000-Einwohner-Stadt Ferguson (Missouri) erschossen hat. Am Mittwoch sprach er in einem TV-Interview erstmals öffentlich und erklärte, er habe ein reines Gewissen und würde jederzeit wieder so handeln. [ APA ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2014)