Jeder zweite Medizinstudent verlässt nach seiner Promotion Österreich in Richtung Deutschland und Schweiz. Um diesen Trend zu stoppen, braucht es eine Reihe von Maßnahmen.
Wien. Es ist schon länger nicht mehr zu leugnen. Österreich im Allgemeinen und Wien im Speziellen bieten für junge Ärzte keine attraktiven, im europäischen Vergleich wettbewerbsfähigen Arbeitsbedingungen. Mit der Folge, dass mittlerweile jeder zweite Absolvent eines Medizinstudiums ins Ausland geht. Mussten angehende Ärzte in Wien bis vor Kurzem noch mehrere Jahre auf einen Turnusplatz warten, haben die Krankenhäuser heute teilweise sogar Probleme damit, diese Stellen überhaupt zu besetzen. Am stärksten ist die Abwanderung nach Deutschland und in die Schweiz. Gefolgt von Großbritannien und den skandinavischen Ländern. Der Grund ist fast immer derselbe: bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter. Hinzu kommen oft Anreize wie Dienstwohnungen, Hilfe bei der Suche nach Kinderbetreuungsplätzen, kostenlose Sprachkurse und bezahlte Heimflüge.
Neben den Auswirkungen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung trifft dieser Trend auch die Volkswirtschaft. Denn jeder Medizinstudent kostet die Universitäten allein für das Studium rund 26.000 Euro pro Jahr. Macht bei einer Mindeststudiendauer von sechs Jahren 156.000 Euro.
Der Abwanderung von jungen Ärzten aus Österreich könnte man entgegenwirken – mit folgenden fünf Maßnahmen.
1 Bessere Ausbildung für Turnus- und Assistenzärzte
In einer Ärztekammer-Umfrage beurteilten Turnusärzte die Qualität ihrer Ausbildung auf einer Schulnotenskala mit 2,79 (Befriedigend). 37,2 Prozent gaben an, nach der Absolvierung einer Abteilung typische Krankheitsbilder nicht oder nur zu einem kleinen Teil richtig zu erkennen. In Wien würde jeder dritte Arzt laut einer OGM-Befragung nach den Erfahrungen, die er während seiner Turnuszeit gemacht hat, nicht wieder Medizin studieren. Das Hauptproblem sind die fehlenden Ressourcen, die eine qualitätsvolle Ausbildung sicherstellen könnten – beispielsweise mit einem Mentoring-System. Zwar haben auch in Österreich Turnus- und Assistenzärzte Fach- bzw. Oberärzte als Ausbildner, diese haben aber im Alltag kaum Zeit dafür. Funktionieren kann dieses System nur, wenn die Mentoren für die Ausbildung freigestellt werden.
2 Kein Missbrauch von jungen Ärzten als „Systemerhalter“ im Spital
Ärzte in Ausbildung werden in Wien traditionell zu einem großen Teil für Tätigkeiten eingesetzt, die in anderen europäischen Ländern praktisch zur Gänze vom Pflegepersonal übernommen werden und bei denen sie kaum etwas lernen. So berichten Turnus- und Assistenzärzte, dass sie mindestens 80 Prozent ihrer Ausbildungszeit mit Aufgaben verbringen wie etwa Arztbriefe schreiben, Befunde kopieren bzw. telefonisch anfordern, Blut abnehmen, Infusionen anhängen und Blutdruck messen. Junge Krankenpfleger wiederum beklagen, dass sie von ihren älteren Kollegen dazu angehalten werden, diese Tätigkeiten nicht zu übernehmen und sie großteils den jungen Ärzten zu überlassen, damit es irgendwann nicht zur Selbstverständlichkeit wird, dass dafür das Pflegepersonal zuständig ist.
3 Eine im europäischen Vergleich angemessene Bezahlung
In der Schweiz verdient ein Facharzt bereits in der Ausbildung rund 9000 Franken (8500 Euro) Grundgehalt, bei der Gemeinde Wien bekommt ein fertiger Facharzt anfangs 4100 Euro brutto. Obwohl dieses Gehalt im Zuge des neuen Arbeitszeitgesetzes schrittweise um bis zu 29 Prozent angehoben wird, verdienen Ärzte in Österreich deutlich weniger als in der Schweiz, in Deutschland und Skandinavien. Trotz der teilweise höheren Lebenshaltungskosten in diesen Ländern bleibt ihnen unterm Strich mehr Geld.
4 Wissenschaftliche Forschung als Teil der Arbeitszeit
Wer in Wiener Spitälern Forschung betreiben und seine akademische Karriere vorantreiben will, muss das im Wesentlichen in seiner Freizeit machen, weil er dafür in der regulären Arbeitszeit kaum Kapazitäten hat. Ein klarer Wettbewerbsnachteil gegenüber Ländern wie Großbritannien und Norwegen. Die Rahmenbedingungen für junge Mediziner müssen so gestaltet werden, dass wissenschaftliches Arbeiten nicht nur durch deutlich höhere Arbeitszeiten möglich ist.
5 Perspektiven für verschiedene Lebensphasen und -Konzepte
In den meisten europäischen Ländern ist es üblich, dass es für Mediziner im Alter, die nicht mehr so lang arbeiten wollen bzw. können oder zusätzlich in Ordinationen tätig sind, individuell zugeschnittene Teilzeitprogramme gibt. Dasselbe gilt für Ärztinnen, die Mütter werden. Mehr als die Hälfte der Medizinstudenten sind weiblich. In Fächern wie Gynäkologie und Kinderheilkunde sind sogar bis zu zwei Drittel der Ärzte Frauen. Und müssen sich in Österreich oft zwischen Karriere oder Familie entscheiden. Umfassende Karenz- und Betreuungsangebote könnten sie von diesem Dilemma befreien.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2015)