Präsident Erdoğan will mit seinem China-Besuch Eigenständigkeit beweisen. Doch in der Nahostpolitik wird Ankara der für sich beanspruchten regionalen Führungsrolle nicht gerecht.
Istanbul. Starke Sprüche, großes Selbstbewusstsein – in den vergangenen Jahren hat die Türkei insbesondere im Nahen Osten ihr Streben nach einer Rolle als Führungsmacht deutlich demonstriert. Doch Ankara ist damit grandios gescheitert. Kritiker wie Ex-Staatspräsident Abdullah Gül fordern daher eine radikale Wende in der Außenpolitik.
Derzeit unterstreicht Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einem Besuch in China den Anspruch der Türkei, als eigenständige Regionalmacht zu handeln. Erdoğan trat den Besuch kurz nach dem Beginn der Luftangriffe auf den Islamischen Staat und die PKK-Kurdenrebellen vergangene Woche an – die von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu als Zeichen der regionalen Stärke der Türkei beschrieben wurden.
Mit der Reise nach Peking will Erdoğan seinen Partnern im Westen signalisieren, dass die Türkei auch andere Optionen als die traditionelle enge Anbindung an Europa und die USA hat. Für Erdoğan sei der Besuch eine Gelegenheit, sich als „wichtiger Chef einer Regionalmacht“ zu präsentieren, sagt Behlül Özkan, Politologe an der Istanbuler Marmara-Universität zur „Presse“. Immer wieder spielt Erdoğan mit dem Gedanken, die Westbindung seines Landes zu lockern. So lässt er die türkische Regierung, sehr zum Ärger seiner Nato-Partner, über den Kauf eines chinesischen Raketenabwehrsystems für mehrere Milliarden Euro verhandeln. Für Özkan ein Beleg dafür, dass die Türkei mit Offerten gen Osten „ihre Position gegenüber dem Westen stärken will“.
Ernüchternde Bilanz
Das war auch ein Prinzip der bisherigen Nahostpolitik Ankaras. Nicht einmal das Blatt eines Baumes werde sich im Nahen Osten regen können, ohne dass die Türkei davon erfahre, prahlte Davutoğlu einmal. Insbesondere in der Zeit des Arabischen Frühlings, 2011, bemühte sich die Türkei, durch Unterstützung der Muslimbruderschaft und Verbindungen zu anderen sunnitischen Gruppen ihren Einfluss in der Region auszuweiten. Als muslimische Demokratie mit starker Wirtschaft sah sich das Land als Vorbild und Anführer in Nahost.
Vier Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Die Beziehungen zu Ägypten und Israel sind in der Dauerkrise, beim Nachbarn Syrien betreibt die Türkei die Ablösung von Präsident Bashar al-Assad, und auch mit dem Irak, dem Iran, Saudiarabien und anderen Golfstaaten gibt es mehr oder weniger große Spannungen. Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalin prägte trotzig den Begriff der „wertvollen Isolierung“, weil die Türkei eben auf Werte achte und deshalb so allein sei – doch die meisten anderen Beobachter sprechen von einem außenpolitischen Desaster.
Zu diesen Kritikern gehört auch Ex-Präsident Gül, ein alter Weggefährte Erdoğans, der mehr und mehr seine Abneigung gegen die Politik seines Freundes erkennen lässt. Gül fordert eine Wende in der Außenpolitik und „eine realistischere Herangehensweise“. Laut einer Umfrage betrachten 53Prozent der Türken die Außenpolitik ihres Landes als Misserfolg; vor vier Jahren wurde die Außenpolitik von 71Prozent der Wähler als Erfolg bejubelt.
Neuausrichtung nötig
Eine Neuorientierung steht nach Auffassung von Beobachtern ohnehin an. Sollte die Erdoğan-Partei AKP bei den derzeitigen Koalitionsverhandlungen ein Regierungsbündnis mit der bisherigen Oppositionspartei CHP schließen, sind Auswirkungen auf die Außenpolitik unausweichlich. So fordert die CHP, die Türkei solle sich im Syrien-Konflikt zurückhalten.
Der Kolumnist Semih Idiz erwartet, dass die Türkei über kurz oder lang zu ihrer traditionellen Haltung im Nahen Osten zurückkehrt. Das häufig wie Großmannssucht wirkende Selbstbewusstsein der letzten Jahre werde dann abgelöst von einem altbewährten Grundsatz, sagte er: „Vorsicht in einer sehr ungemütlichen Gegend.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2015)