Aus dem Kopf klopfen

Ein Teenager entdeckt über den Besuch des Films „Winnetou I“ seine Liebe zum Kino und seine Leidenschaft für die Literatur. „Winnetou, Abel und ich“: ein typischer Text Josef Winklers, zugleich ein völlig neuer.

Als thematischer Grundfaden zieht sich die geheime Karl-May-Lektüre durch Josef Winklers Œuvre: Immer wieder sucht ein junger Protagonist mit „Winnetou“ die innere Emigration aus der qualvollen Gegenwart auf dem elterlichen Bauernhof in Kärnten und verzweifelt beinahe darüber, keinen Zugang zu Büchern zu haben. In seinem neuen Prosaband, „Winnetou, Abel und ich“, hat der Autor diesen bisher im Hintergrund laufenden Erzählstrang nun in den Fokus gerückt. Und wie so oft bei der Lektüre von Büchern Winklers hat man zu Beginn das Gefühl: „Das kenne ich ja schon!“, nur, um bald schon festzustellen, dass der Stoff zwar bekannt ist, dessen Ausführung jedoch einen völlig neuen, eigenständigen Text ergibt. Als Einzelwerk fügt es dem Werkganzen eine neue Dimension hinzu.

Beim vorliegenden Band bedeutet dies, in das Kärnten der 1960er-Jahren einzutauchen: Ein Teenager entdeckt über den dem Vater abgerungenen Besuch des Kinofilms „Winnetou I“ die Liebe zum Film und die Leidenschaft für die Literatur. Sicher gibt es hier die allen Winkler-Lesern vertrauten Stigmatisierungen des Vaters als fluchenden, strengen Patriarchen und der Mutter als schweigender Familienarbeiterin; was hier aber neu aufscheint, ist die Kraft, mit der sich die Leidenschaft des Knaben in einer kulturfeindlichen Umgebung durchzusetzen vermag. Schön, wie diese inhaltliche Entwicklung auch auf symbolischer Ebene mitgestaltet wird: Der Stallgeruch des Vaters, den der Bub eigentlich nicht riechen kann, haftet beim ersten Kinobesuch seines Lebens als väterlicher Segen an der Krawatte; dem regelmäßigen „Skalpieren“ durch die väterliche „Wehrmacht-Haarschneidemaschine“ entkommt der Protagonist, indem er eine Pilzkopf-Frisur durchsetzt. Diese bildet das erste „Alleinstellungsmerkmal“ gegenüber dem älteren Bruder, dessen Neid und Eifersucht auf die Geschichte von Kain und Abel verweisen. Überhaupt ist der Text von einem biblischen Subtext geprägt, der auch in den beigestellten symbolistischen Coverbildern von Sascha Schneider anklingt, welche die Fehsenfeld-Ausgabe von Karl Mays Reiseerzählungen geziert haben.

Die schrittweise Emanzipation des Protagonisten lässt sich auch daran ablesen, dass er das Lesegut zuerst stiehlt, dann heimlich von der Pfarrersköchin zugesteckt und zuletzt offiziell von der Lehrerin geschenkt bekommt. Sie gipfelt darin, dass ihm der Vater eine Schreibmaschine kauft. Diese grundsätzliche Zustimmung des Vaters zieht die familiäre Akzeptanz des Schreibens nach sich. An dem einzig geheizten Platz im Bauernhaus, nämlich am Küchentisch, sitzt nun der Protagonist und tippt inmitten des Familienkreises hartnäckig seine Texte: „Ich klopfte das Familienleben aus meinem Kopf und das Familienauseinanderleben in meinen Kopf hinein.“ Kann man sich so den Schreiballtag des jungen Josef Winkler vorstellen?

Man könnte diesen ersten und längsten der fünf Abschnitte, eine Art Lektürebiografie des Protagonisten, auch als Coming-of-Age-Geschichte bezeichnen. Denn den Gang in die Literatur nennt der Erzähler in Anspielung an den von Winkler geschätzten Peter Weiss einen „Anschlag für Anschlag, schritt- und buchstabenweise“ vollzogenen „Abschied von den Eltern“ – und von der Schule.

Dass es gerade Karl Mays Bücher sind, die den Protagonisten zur Literatur bringen, überrascht kaum: Diese Abenteuerromane haben Generationen von Lesern begeistert, haben im 20. Jahrhundert die – vor allem männliche – Jugend zum selbstvergessenen Lesen gebracht. Karl Mays Name taucht deshalb immer wieder auf, wenn Schriftsteller über prägende Lektüreerlebnisse berichten. Bei Josef Winkler sind die „Winnetou“-Romane jedoch mehr als nur einflussreiche Literatur; ähnlich wie bei Peter Henisch werden sie zu zentralen intertextuellen Bezügen. Dies zeigt wieder einmal, wie sehr man Winklers Romanen unrecht tut, wenn man sie auf die kritische Auseinandersetzung mit seinem Kärnten und auf Antiheimatliteratur reduziert. In seinen Texten ist weit mehr verwoben als der bigotte Katholizismus, die fehlende Vergangenheitsbewältigung oder das menschenverachtende Patriarchat in der österreichischen Provinz. Es ist ein komplexes Werk, dessen Einzelteile ineinandergreifen und jeweils andere Aspekte eines literarischen Universums beleuchten.

Dieser Kosmos umschließt ein minuziös wahrnehmendes Ich, das schreibend mit der Allgegenwart des Todes kämpft – ein Thema, das schon viele Denker und Dichter umgetrieben hat, am prominentesten im deutschsprachigen Raum wohl Thomas Bernhard. Und wie bei diesem alten Meister, so enthält das zentrale Thema bei Josef Winkler neben der heftigen Kritik an der österreichischen Gesellschaft auch eine Verherrlichung der literarischen Gegenwelt, eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit und eine eigensinnige Komik.

Was im Fall Josef Winklers noch hinzukommt, ist eine spezifische Konterkarierung von Thanatos und Eros in Form von homoerotischen Szenen, die der junge Autor in radikale Makrobeschreibungen auflöst. All diese Aspekte fließen auch in Winklers Auseinandersetzung mit dem „Winnetou“-Stoff ein: Die restlichen vier Abschnitte sind Nacherzählungen von Karl Mays „Winnetou I–III“ (1893) und „Weihnacht!“ (1897). Nur selten klingt darin der Winkler-Ton an, vielmehr handelt es sich teilweise um Montagen von Originalsätzen, die v. a. die Freundschaft von Winnetou und Old Shatterhand thematisieren und deren homoerotische Züge unterstreichen – ein Aspekt, den etwa Arno Schmidt auch in der Arbeitsfreundschaft zwischen May und Schneider zu erkennen glaubte. Ebenso wenig überraschend ist, dass Winkler auf die Sterbeszenen, die Begräbnisrituale sowie den Glauben fokussiert ist. Damit fügt sich der Band „Winnetou, Abel und ich“ auch leitmotivisch ins Gesamtwerk, das von Begräbnisritualen in Kärnten, Italien, Indien oder Mexiko geprägt ist.

Eine profunde Kenntnis von Karl Mays Werken ist keine Voraussetzung, doch macht sie – wie in jedem postmodernen Text – die Lektüre ertragreicher: Die Winkler'sche Kompilation des „Winnetou“-Stoffs ist vor allem in Bezug auf das Schaffen des nacherzählenden Autors aussagekräftig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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