Das Nilpferd auf der Hacienda

Alles scheint abzustürzen in Juan Gabriel Vásquez' Roman „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“: die Ehe des Protagonisten, das Land Kolumbien und natürlich die Flugzeuge der Drogenbarone. Das schwermütige Porträt einer Gesellschaft im Bürgerkrieg.

Mitte der 1990er-Jahre lösten sich Bogotá und Kolumbien langsam aus der Schreckensstarre, in die sie durch die andauernden Gewalttätigkeiten des vorangegangenen Jahrzehnts gefallen waren. 1993 war der bekannteste Drogenboss, Pablo Escobar, erschossen worden: Er steckte hinter zahlreichen „Politattentaten“, um die kolumbianische Öffentlichkeit zu terrorisieren, als der „War on Drugs“ zwischen Regierungstruppen und Drogenbossen auf seinem Höhepunkt war. Zu Zeiten der Fußballweltmeisterschaft erinnert man auch gern an den Tod Andrés Escobars, jenes Verteidigers, der bei der WM 1994 gegen die USA ein Eigentor geschossen hat und nach der Rückkehr in Medellín von einem Bodyguard und Fahrer für Drogenbosse ermordet wurde.

Im Jahr 2009 – und damit setzt die Handlung von Juan Gabriel Vásquez starkem Roman ein – erschießen Scharfschützen ein Nilpferd, nachdem es aus dem Zoo der nunmehr verödeten Hacienda Pablo Escobars entlaufen ist und Felder und Tränken verwüstet hat. Langsam verfallen jetzt auch die letzten noch bestehenden Relikte und Symbole des einstigen Verbrecherimperiums. Für den Ich-Erzähler, den Jus-Professor Antonio Yammara, schließt sich mit dieser kurzen Zeitungsnotiz ein Kreis in seinem Leben, „der sich vor langer Zeit geöffnet hat“. Er steht kurz vor seinem 40.Geburtstag und wird wieder einmal seine Lebensgeschichte Revue passieren lassen: die Geschichte eines Mannes, dessen Leben vom Kokain (beinahe) zerstört wurde, ohne dass er in seinem Leben ein Gramm davon angerührt hätte.

Ende 1995 lernt der junge Antonio, dem kurz nach Abschluss seines Studiums alle Möglichkeiten des Lebens offenstehen, beim Billardspielen Ricardo Laverde kennen, einen mysteriösen Einzelgänger, von dem man munkelt, dass er lange Zeit im Gefängnis war. Schicksalhaft für beide wird aber erst die neuerliche Begegnung ein paar Wochen später: Antonio begleitet Ricardo auf dessen Wunsch zu einem Kulturzentrum mit dem schönen Namen Casa de la Poesia, wo dieser sich eine Tonbandaufzeichnung des Flugschreibers jenes Flugzeugs anhören will, mit dem kurz zuvor seine Frau abgestürzt ist. Solche Dinge kann man sich in Kolumbien gegen entsprechendes Entgelt ohne Weiteres besorgen. Als die beiden wieder auf der Straße sind, werden sie von einem Motorrad aus beschossen: Ricardo ist auf der Stelle tot, Antonio überlebt mit einem Bauchschuss.

Als er aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist Antonios Unbeschwertheit weg, sein Leben kontaminiert, und eine quälende Suche nach dem Sinn des Geschehens bestimmt fortan seine Tage. Kurz zuvor hatte er noch seine Studienkollegin Aura geheiratet, die ein ungeplantes Kind von ihm erwartet. Antonios Ängste, seine Unfähigkeit, mit der traumatischen Geschichte abzuschließen, bringen seine junge Ehe an den Rand des Scheiterns. Ausgerechnet zu dieser Zeit nimmt Laverdes attraktive Tochter, Maya, Kontakt mit ihm auf. Sie sucht ebenfalls nach Erklärungen für den gewaltsamen Tod ihres Vaters, an den sie kaum „echte Erinnerungen“ hat. Denn ihre Mutter hat ihn nach seiner Verhaftung dem Kind gegenüber für tot erklärt. Für sie ist es das „Traurigste, was einem passieren kann: falsche Erinnerungen zu haben“. Ihre Suche nach Erklärungen führt die beiden weit zurück in die Vergangenheit von Laverdes Familie.

In den 1930er-Jahren hat Ricardos Großvater, ein Fliegerheld aus dem Krieg mit Peru, seinen Sohn zu einer Flugshow mitgenommen, bei der dieser nach dem spektakulären Absturz eines Fliegers eine tiefe Gesichtsnarbe davongetragen hat. Für den jungen Ricardo Faszination und Abscheu zugleich. Ende der 1960er-Jahre lernt Ricardo die ebenso junge wie idealistische Amerikanerin Elaine kennen, die mit dem Peace Corps ins Land gekommen war. Sie heiraten, doch Ricardo besitzt wenig, will und kann nichts außer Fliegen. Er beginnt, geheimnisvolle, sehr lukrative Aufträge zu erledigen, von denen sich später herausstellt, dass sie Schmuggelflüge im Auftrag der Drogenkartelle waren. Er wird verhaftet und sitzt beinahe 20 Jahre in einem US-Gefängnis.

„Man ist glücklich, bis man definitiv eine Dummheit begeht, danach wird man nie wieder zu dem, der man vorher war.“ „Flying high“ führt in diesem Roman zu großen Abstürzen. Das riskante Fliegen und Flugzeuge sind als wiederkehrende Metaphern und Spiegelungen in einem Roman arrangiert, dem auch nicht zufällig ein Motto des großen, am Ende abgestürzten Fliegers Antoine de Saint-Exupéry vorangestellt ist und der „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“ heißt: Alles scheint abzustürzen, Antonios Ehe, die Flugzeuge, das Land Kolumbien. Das Geräusch der Dinge dabei ist nicht schön, aber äußerst klar.

Eine bittere Ironie der schlimmen Geschichte Kolumbiens und auch der USA liegt nun darin, dass der Drogenhandel auch durch ein paar weniger idealistische Mitglieder des Peace Corps auf den Weg gebracht worden ist: Sie waren es, die die Bauern lehrten, wie man Marihuana anbaut oder Kokapaste transportgerecht verarbeitet. Präsident Nixon war es, der im Juni 1971 schon den „war on drugs“ erklärt und mit der Schließung der Grenze den Nachschub über die mexikanische Grenze abgeschnitten hatte.

Vásquez' meisterhaft-schwermütiger Roman, der mit dem hochdotierten Premio Alfaguara de novela und zuletzt mit dem International Dublin Impac Award ausgezeichnet wurde, ist eine höchst raffiniert konstruierte und präzise Erkundung dessen, was einer Gesellschaft im Bürgerkrieg angetan wird und wie ein Einzelner es er- und überlebt, wenn der Tod von einem Augenblick auf den nächsten alle Sicherheiten zerstört. „Das Erwachsensein bringt die schädliche Illusion mit sich, alles zu kontrollieren, ja beruht vielleicht auf ihr.“ Wie zerbrechlich diese Illusion ist, wie sehr ein Leben von nicht zu kontrollierenden äußeren Geschehnissen abhängt, kann man auf jeder Seite dieses Romans nachspüren. ■

Juan Gabriel Vásquez

Das Geräusch der Dinge beim Fallen

Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. 294S., geb., €23,60 (Schöffling Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2014)

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