Betäubtes Hirn,belegte Zunge

Aus Sicht einer Dolmetscherin: Shumona Sinhas differenzierte Innensicht einer Asylbehörde.

Und immer noch ziehen Herden von Menschen nach Norden. Mit ihren Lügen, ihrer Mittelmäßigkeit, ihrer ungeschickten Verbohrtheit, ihren Träumen traurig wie Lumpen.“ Die Geister, die die Globalisierung gerufen hat, wird Europa nun nicht mehr los. Es ist zum Zauberlehrling der Welt geworden. Wer wollte in einer globalisierten Welt einem anderen das Chance auf ein besseres Leben (als in seinem Herkunftsland) verwehren? Zumal die schlechten Lebensbedingungen – etwa in nordafrikanischen Staaten – von den reichen Ländern des Nordens mitverursacht werden: durch das Leerfischen der Meere, durch Zerstörung der Böden bei der Plünderung der Bodenschätze, durch Exporthilfen europäischer Agrarprodukte nach Afrika...

„Erschlagt die Armen!“ heißt folgerichtig der Roman der Bengalin Shumona Sinha. Die 1973 in Kalkutta geborene Dolmetscherin arbeitete bei der französischen Asylbehörde, bevor sie 2011 nach der Veröffentlichung des jetzt auf Deutsch vorliegenden Buches entlassen wurde. Was sie darin über die Gespräche der Behörde mit den Asylbewerbern preisgibt, ist unangenehm, sowohl für die Menschenrechtsaktivisten, die nur die Not der Flüchtlinge sehen wollen, als auch für die Xenophobiker, die bloß um ihren Wohlstand bangen. In dieser Verunsicherung liegt eine seiner großen Qualitäten. Ein weiterer Vorzug des Romans ist seine literarische Brillanz. Denn „Erschlagt die Armen!“ ist kein Schlüssellochroman, sondern eine literarisch gestaltete Geschichte mit einer Sprache voll von unverbrauchten, eindringlichen Metaphern.

Frau mit verbranntem Gesicht

Die eingangs zitierten Sätze geben die differenzierte Haltung, die Shumona Sinha aus intimer Kenntnis einnimmt, ausgezeichnet wieder. Sie weiß aus eigener Herkunft und Geschichte vom Elend des Lebens in Entwicklungsländern. Sie hat vergewaltigte Frauen kennengelernt, sie hat das verbrannte Gesicht und den entstellten Körper einer Landsmännin gesehen, sie kann sich die Kanäle voller Blut zwischen zwei Reisfeldern vorstellen.

Die Ich-Erzählerin des autobiografischen Romans sitzt als Übersetzerin aber auch neben der tschetschenischen Eva „mit ihren Worten wie Nagellack“, mit denen „sie ihre rohen, spitzen, verbeulten Wahrheiten“ lackiert. Mit der Zeit entwickelt die Erzählerin eine Art Filter gegen die Lügen und Fälschungen, mit denen die Asylwerber ihr persönliches „Leben weißer weißen als die Wände“. Sie alle geben sich als Opfer schlimmer Verfolgungen aus, um Asylstatus zu erlangen. Nach 6750 Fällen wird sie Zeugin einer Sensation: „Aus Blut und Schweiß wird ein Mann geboren, ein guter Mann, ein echter Mann“, nämlich einer, der glaubwürdig ist und die Wahrheit sagt.

Die Menschen in dieser „Lügenfabrik“, wie Shumona Sinha die Asylbehörde nennt, spielen alle ihre Rollen, die „wohltätigen Engel“, die ihr schlechtes Gewissen für ihr Leben im Luxus besänftigen, die Beamten, die Anwälte, die Richter, die Dolmetscher und nicht zuletzt die Flüchtlinge selbst. „Die Antragsteller, die Beamtinnen und ich, wir alle waren wie erschlagen, betäubtes Hirn und belegte Zunge.“ Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass unser System des Asylwesens nicht funktioniert, die Toten von Parndorf haben ihn geliefert. Und in Brüssel: Ist da jemand?

Shumona Sinha bestätigt jedenfalls die These, nach der Krisenzeiten gute Zeiten für die Literatur sind. ■

Shumona Sinha

Erschlagt die Armen!

Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller. 128S., geb., €18,50 (Edition Nautilus, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)

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