Plötzlich in einem fremden Staat

Richard Swartz, von Wien aus operierender Südosteuropa-Korrespondent, legt ein stimmungsvolles wie lehrreiches Buch über einen Landstrich vor, zu dem auch viele Österreicher eine innige Beziehung entwickelt haben: die Halbinsel Istrien.

Der 1945 in Stockholm geborene Richard Swartz ist ein schwedischer Schriftsteller, ein österreichischer Patriot und einer der besten europäischen Kenner des Balkans. Diese Konstellation hat vielleicht dazu beigetragen, dass sich seine Melancholie, ohnedies einer seiner auffallenden Charakterzüge, in den vergangenen Jahren noch erheblich gesteigert hat. Es ist für diesen Autor aus dem protestantischen Skandinavien eben nicht immer leicht zu ertragen, was sich von Polen bis Kroatien im katholischen Osten neuerdings zuträgt, in jenem Teil Europas, dem seit seiner Jugend sein Interesse und seine Zuneigung gilt. Fast 40 Jahre war Swartz Korrespondent des „Svenska Dagbladet“ für Osteuropa, und für seine osteuropäischen Erkundungen hatte er zu Zeiten des Kalten Krieges sein Basislager in Wien aufgeschlagen; es wird nicht viele Wiener geben, die den sechsten Bezirk besser kennen als dieser Zugereiste, der in „Wiener Flohmarktleben“, einem zauberhaften Büchlein, das im Vorjahr erschienen ist, traurig bilanziert, wo wieder eine Greißlerin oder ein Handwerker zugesperrt haben.

Swartz, den man sich nach einem Buchtitel des spanischen Autors Rafael Chirbes am besten als „sesshaften Reisenden“ vorstelle, ist ein passionierter Liebhaber von Hotels, in denen er sein halbes Leben verbracht und denen er 1996 ein legendäres Buch gewidmet hat. In „Room Service“ erzählte er die Geschichte des einstigen Ostblocks anhand der Hotels, in denen er Logis bezog, von schäbigen Absteigen in der Provinz bis zu exklusiven Etablissements, in denen die zahllosen Wanzen nicht auf einen Mangel an Hygiene, sondern ein Übermaß an staatlicher Fürsorge schließen ließen.

Nun legt er ein stimmungsvolles wie lehrreiches Buch vor, in dem man einiges über ihn erfahren kann, mehr über seine Familie und am meisten über einen Landstrich, zu dem in den vergangenen Jahren auch viele Österreicher eine innige Beziehung entwickelt haben: über die Halbinsel Istrien. Familie meint hier nicht jene schwedische Industriellendynastie, die in Kriegszeiten stets gute Geschäfte machte, worüber Swartz, ohne sich zu schonen, das Seine schon in früheren Büchern gesagt hat. Nein, dieses Mal ist die kroatische Familie gemeint, die er sich vor bald 30 Jahren zugezogen hat, als er Slavenka Drakulić heiratete, die ich zögere, als „kroatische Schriftstellerin“ zu bezeichnen, weil die Charakterisierung „jugoslawisch“ viel besser für sie passt.

Drakulić hat neben etlichen Prosabänden auch jene international viel beachtete Reportage veröffentlicht, für die sie in Den Haag die verurteilten bosnischen, serbischen und kroatischen Kriegsverbrecher besucht und befragt hat. Und was fand sie in deren Spezialgefängnis vor? Das letzte Stück real existierenden Jugoslawiens! Die Feinde von einst, die Massaker in Auftrag gaben oder selbst dabei Hand anlegten, sie hören gemeinsam jugoslawische Volksmusik, sie kochen die Gerichte, die bei uns in Restaurants angeboten werden, die Beograd, Dalmatia oder Balkangrill heißen, sie vertreiben sich die Zeit mit den in ihren Ländern populären Brett- und Kartenspielen und trauern einträchtig der Zeit nach, als sie das alles noch in Freiheit tun konnten, in jenem verhassten gemeinsamen Staat, den sie unbedingt in Trümmer legen mussten.

Vor Langem hat das schwedisch-kroatische Ehepaar ein Haus in Istrien erworben, sodass die beiden einen Teil des Jahres in einem Dorf im Landesinneren verbringen, genauerim Gebirge, denn Sovinjak liegt, wie auf der Kirchenmauer angegeben ist, 293 Meter über dem Meeresspiegel. Wenn Österreicher an Istrien denken,vergegenwärtigen sie sich als Erstes wohl die Küste mit ihrer Kette schöner Badeorte. Swartz erinnert hingegen daran, dass eszwei Istrien gibt. Das eine liegt am Meer, hat es zu einigem Wohlstand gebracht und wird von weltoffenen Menschen bewohnt, deren Kultur von der Seefahrt und der Fischerei geprägt wurde. Das andere liegt im unwegsamen Landesinneren, hat nur wenige fruchtbare Böden, dafür aber lange kalte Winter – und einen Menschenschlag hervorgebracht, der abweisend, traditionsverhaftet und herrlich oder schrecklich stur ist.

Viele der Bewohner von Sovinjak haben das Meer noch nie gesehen, und in der Küche Inneristriens spielen Fische erst eine Rolle, seitdem Touristen auch bis in die abgelegenen Ortschaften auf den Bergen vorgedrungen sind. Die längste Zeit hätten die istrischen Bergler nicht einmal gewusst, was sie mit ihrem Wein anfangen sollten, er habe schauerlich geschmeckt, weil sie gar nicht begriffen, dass „Wein nicht nur Natur ist, sondern auch etwas mit Kultur zu tun hat“.

Mit einprägsamen Betrachtungen und klugen historischen Exkursen stellt Swartz eine Region vor, die keineswegs so idyllisch ist, wie sie den Urlaubern erscheinen mag. Auf dem Friedhof von Sovinjak liegen zwar einträchtig die Gräber der kroatischen Vitolović, der italienischen Bartoli, der österreichischen German nebeneinander. Nur wurden zu Mussolinis Zeiten aus den Vitolović die italienischen Vitolo, und als die Italiener vertrieben wurden, mussten sich jene von ihnen, die bleiben wollten, slawisieren und beispielsweise Bartolović nennen. Der Nationalismus hat aber keine istrischen Wurzeln, er wurde von außen, von den Mächtigen in Rom und Zagreb, auf die Halbinsel getragen. Die Leute von Sovinjak halten daher zu den Verheißungen des Nationalismus seit je eine vernünftige Distanz. So sagen sie nicht, dass sie italienisch, kroatisch oder slowenisch sprächen, sondern „naš jezik“: „unsere Sprache“, ein Idiom, das aus „einer Mischung von drei Sprachen besteht“, die schon für Leute, die „nur wenige Kilometer von Sovinjak entfernt wohnen, schwer zu verstehen ist“.

Verschärft hingegen hat sich der Nationalismus neuerdings wieder in anderen Gebieten Kroatiens, etwa in der Krajina, wo sich 1991 die Serben von dem neu entstandenen kroatischen Staat abspalteten, worauf an die 100.000 Kroaten und Muslime das Land fluchtartig verließen. Im Gegenschlag wurde die Krajina vier Jahre später von den kroatischen Truppen erobert, was wiederum zur Flucht von Abertausenden Serben führte, deren Vorfahren seit Menschengedenken in dieser Region gelebt hatten. Der jugoslawische Zerfallskrieg hat eine enorme innerjugoslawische Völkerwanderung hervorgerufen, und dabei wurden zahllose Häuser von ihren Besitzern verlassen, weil sie sich nunmehr in einem fremden Staat befanden,der sich eine nationale Fassung, eine nationalistische Ordnung gab.

Ich bin selbst vor wenigen Jahren durch serbische und kroatische Dörfer gekommen, in denen die Hälfte der Häuser beschädigt war, Einschüsse tiefe Löcher in den Fassaden hinterlassen hatten und durch die Dächer bereits die Zweige von Büschen und Bäumen stießen. Das Besondere an diesen verlassenen Häusern war, dass die neuen Herren sie zwar überall restlos ausgeplündert, aber nirgendwo in ihren Besitz genommen hatten: „Diese Häuser werden selbst von denjenigen wie die Pest gemieden, die die anderen verjagt und in die Flucht getrieben haben.“

Die bei uns wenig bekannte Adriainsel Silba war zu Zeiten der jugoslawischen Republik bei Offizieren und Parteikadern aus allen Landesteilen beliebt, die hier ihre Ferien- und Alterssitze erstanden. Als Jahre später Richard Swartz und Slavenka Drakulić die Insel besuchen, sieht sie noch immer aus, als „hätte der Krieg sogar hier gewütet“. Die Häuser der Serben, die die kroatische Insel verließen, wittern dahin, aber sie werden weder niedergerissen, noch von den einstigen Nachbarn der Serben renoviert und selbst bezogen, sodass in den Besuchern ein merkwürdiges Gefühl wächst: „Wir ertappten uns dabei, dass wir sie vermissten, Menschen, denen wir nie begegnet waren, und blieben traurig vor ihren verlassenen Häusern stehen.“

Im Grunde wird Istrien für Swartz immer noch von archaischen Regeln bestimmt. Der schweigsame Schwiegervater des Autors war Kommunist, Partisan, später Leiter eines Staatsbetriebs, also ein Angehöriger der Nomenklatura, wobei er niemals zu erkennen gab, ob er vom Kommunismus als gesellschaftlicher Utopie überhaupt überzeugt war. Die Schwiegermutter hingegen hielt es mit dem Katholizismus, und zwar auf weniger spirituelle denn geradezu körperliche Weise. Katholisch sein, das hieß für sie, das Kreuz während der heiligen Messe besonders oft und für alle sichtbar zu schlagen: „Ihr Glaube war dazu da, von anderen gesehen zu werden.“ Die Partei und die Kirche, wie Swartz sie schildert, waren Institutionen, die nicht viel mit Idealen oder auch nur mit Überzeugungen zu tun haben mussten und von denen er dennoch sagt, beide zusammen hätten in Istrien jenen Rahmen bereitgestellt, den raue Menschen benötigen, um zu einem zivilisierten Auskommen miteinander zu finden.

Die drei Mächte, die das Leben auf Istrien bestimmen, nennt schon der Titel: Blut, Boden und Geld, wobei dem Geld eindeutig die geringste Bedeutung zukommt. Mit Blut ist der Zusammenhalt von Menschen gemeint, die derselben Familie angehören, die, über diverse Eheschließungen, auch mazedonische oder serbische Zweige haben kann, also keine nationale Keimzelle darstellt. Die stur katholische Schwiegermutter hält den Zerfall Jugoslawiens schlichtfür eine ordinäre Angelegenheit, weil sie nun ihre im mazedonischen Bitola verheiratete Schwester nicht mehr besuchen kann, ohne mit einem Pass eine Grenze zu überschreiten, wo früher keine war. Dass sie die Schwester auch vorher niemals besucht hat, ändert nichts an dem Groll, den sie gegen den widersinnigen Verlauf der Geschichte hegt.

Am Boden wiederum hält man zäh fest, selbst wenn er unfruchtbar ist oder schon lange nicht mehr genutzt wird. Bis man ihn gegen Geld hergibt, muss vieles geschehen. Am Ende soll ausgerechnet der eingeheiratete Schwede im Auftrag von Schwiegermutter und Gattin ein Anwesen auf der Insel Krk verkaufen, das einem entfernten Verwandten, einem pensionierten serbischen General, gehört. Das wird für Swartz zur definitiven Lektion in kroatischer, nein, jugoslawischer Psychologie, denn beim Verkauf der Immobilie handelt es sich um keinen schnöden geschäftlichen Akt. Es gilt nämlich keineswegs, einen möglichst guten Preis auszuhandeln, sondern die Ehre sämtlicher Beteiligter zu wahren.

Der große Gleichmacher, das Geld, hat hier noch lange nicht gesiegt. Den Alltag prägen nicht die Ideale oder Werte aus der kurzen kommunistischen Ära und auch nicht jene des Kapitalismus seit 1991, sondern die jahrhundertealten Traditionen des Feudalismus. Der Mann aus dem Norden, gekommen, um zu bleiben, vermerkt es mit Missbehagen, und doch entdeckt er just in dem Ärger, den er über diese kleine Welt empfindet, dass er selbst bereits zu ihr gehört. ■

Richard Swartz

Blut, Boden & Geld

Eine kroatische Familiengeschichte. Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder. 224 S., geb., € 20,50 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

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