Das Kräuseln der Fassade

Daniel Kehlmann erzählt vom Verschwinden eines Autors.

Eine junge Familie beginnt ihren Urlaub in einem abgelegenen Berghaus. Nach einem solchen Auftakt ist in einem Horrorfilm klar, was folgt. Erst blitzen nur Momente der Verunsicherung auf, dann werden die Gefahrenzeichen eindeutig. Die Klimax des Schreckens beginnt fast flach, irgendwann führt sie steil bergauf. Den Gesetzen des Gruselgenres folgt Daniel Kehlmann in seiner Erzählung „Du hättest gehen sollen“. Deren Erzähler, ein Drehbuchautor, stößt bald auf erste Warnsignale. Da ist der Greißler, der andeutet, dass mit dem Haus da oben etwas nicht stimmt. Und hat nicht eine alte Frau im Geschäft gesagt „Geht schnell weg“ – oder hat er nur den Dialekt missverstanden?

Zugleich verschwimmen die Grenzen zwischen Film und Realität. Während sich das als Beziehungskomödie gedachte Drehbuch unter dem Eindruck einer Ehe- und Schreibkrise düster färbt, wird zugleich die Realität immer mehr zu einem ganz anderen Film – einem Horrorstreifen. Ein „Geh weg“ steht plötzlich im Notizbuch. Im Spiegel sieht der Erzähler das ganze Zimmer, nur nicht sich selbst. Auf dem Bildschirm des Babymonitors sieht er sich im Kinderzimmer stehen. Furchterregende Gesichter, Körper, Stimmen; Räume, die ihre Konturen verändern: Da „kräuselt“ sich etwa die Fassade des Hauses.

Und doch gruselt es einen beim Lesengar nicht – und soll es wohl auch nicht. Eher fühlt man sich einer Versuchsanordnung beigezogen. „Du hättest gehen sollen“ liest sich, als wäre Steven Spielbergs „Poltergeist“ in Kafkas „Schloss“ eingedrungen, noch mehr aber wie ein auf die Stringtheorie gekommener E. T. A. Hoffmann. Der hätte sich vielleicht für die physikalische Theorie des Multiversums interessiert, derzufolge zahllose Paralleluniversen existieren – nicht räumlich, sondern durch ihre Zustände getrennt. „Wäre ich Physiker, das Ganze würde mich nicht wundern“, lässt Kehlmann seinen Erzähler sagen. Zusätzlich zu den drei bekannten Dimensionen, erkennt er, gebe es wohl noch drei weitere, auf „der anderen Seite, oder eigentlich von innen“. Und das Haus sei eine der „Stellen, wo die Substanz dünn wird“.

Von Wesen, die mehr wissen

Die Frau Susanna und die vierjährige Tochter Esther bleiben abstrakt wirkende Statistinnen. Der Autor hingegen findet sich, wie so viele von Kehlmanns Figuren, am Abgrund wieder, der sich hier nicht an der Grenze zu den Naturwissenschaften auftut, sondern mittendrin. Trotzdem geht Kehlmanns Held nicht an der Physik zugrunde. „Du hättest gehen sollen“ erzählt vom Verschwinden eines Schriftstellers, der in dem Moment, da er zu verstehen beginnt, es nicht mehr mitteilen kann. „Mit neuen Worten ging es. Aber wozu die Mühe.“ Außer ihm sind ja nur noch jene Wesen im Haus, die ohnehin „viel mehr wissen als er“.

Hat man deshalb den Eindruck, auch in dieser Erzählung nur „alten Worten“ zu begegnen? Da sie von einem versagenden Autor stammt, ist es einerseits nur konsequent, wenn sie das Versagen vorführt. Deklariert aber nicht hier auch der reale Autor sein Leiden – und kaschiert es zugleich? Die Konstruktion bietet ihm nämlich ein praktisches Hintertürl, er kann immer sagen: Ich war das nicht! Ich bin nicht der Erzähler. Kehlmann vollführt jedenfalls tolle intellektuelle Saltos, zeigt sich wieder als Meister des literarischen Spiels und souveräner Stilist. Aber an keiner Stelle wird Lebendiges mit lebendigen Worten erlebbar. Die Erzählung „Du hättest gehen sollen“ erzählt auch von sich selbst. Vielleicht nicht nur so, wie der Autor es gerne hätte. ■

Daniel Kehlmann

Du hättest gehen sollen

Erzählung. 96 S., geb., € 15,50 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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