Das Potenzial der rot-schwarzen Regierung wurde nicht voll ausgeschöpft, vieles sei im Streit untergegangen, bedauert der neue Vizekanzler: "Es war wirklich oft zum Mäusemelken." Ob er bei der vorgezogenen Nationalratswahl kandidiert, ließ er offen.
Der neue Vizekanzler Wolfgang Brandstetter (ÖVP) will einen "Kassasturz" für die noch ausstehenden Regierungsprojekte. Umgesetzt werden soll, was sich rasch realisieren lässt, erklärte er am Mittwochnachmittag bei einem Hintergrundgespräch. Offen ließ er ein Antreten bei der vorgezogenen Nationalratswahl, mit dieser Frage habe er sich noch nicht beschäftigt, meinte der parteifreie Justizminister.
Brandstetter betonte, er habe am Mittwoch im Parlament ein "sehr konstruktives" Gespräch mit Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) geführt. Erfreut zeigte sich der Vizekanzler außerdem über die vier gemeinsamen Anträge im Nationalrat, darunter die Forschungsquote und die Staatszielbestimmung für den Wirtschaftsstandort. Die Frauenquote in den Aufsichtsräten hingegen sei zurückgestellt worden, da noch legistische Details zu klären seien, so der Justizminister. Offen sei etwa, ob die Vorgabe auch für die Arbeitnehmervertreter gelten soll.
Nun soll mit der SPÖ geklärt werden, welche Projekte noch gemeinsam umgesetzt werden können, bekräftigte Brandstetter. Auf konkrete Themen wollte er dabei nicht eingehen, auch nicht auf Zahlenspiele, wie viele es noch seien. Nicht abschreiben wollte er daher auch die Bildungsreform. Er räumte aber ein, dass es sich hierbei um ein wesentlich komplexeres Thema als etwa die Erhöhung der Studienbeihilfe handelt. Auch bei der vorerst gescheiterten Gewerbeordnung soll nun besprochen werden, was noch möglich ist, betonte der Vizekanzler.
Trotz der mittlerweile eingereichten Scheidung wollen SPÖ und ÖVP bis zum Sommer noch eine Reihe von Projekten abarbeiten. Die SPÖ will dazu auch Mehrheiten mit den Oppositionsparteien suchen und hat bereits vier erste Gesetzesanträge (zu Stipendien, Frauenquoten, Aktion 20.000 und Forschungsprämie) im Nationalrat eingebracht. Ein Überblick: REUTERS
AKTION 20.000 In die Förderung gemeinnütziger Arbeitsplätze für über 50-jährige Langzeitarbeitslose sollen laut Regierungsprogramm ab Juli 200 Millionen Euro fließen. Von Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) gab es bisher kein grünes Licht: Er machte offene Finanzierungsfragen geltend, die SPÖ warf dem ÖVP-Minister vor, dem Koalitionspartner keinen Erfolg gönnen zu wollen. www.BilderBox.com
Die Anhebung der Forschungsprämie von zwölf auf 14 Prozent ab 2018 ist Teil des Regierungsprogramms. Zuletzt wurden damit die Forschungsaktivitäten von 2262 Unternehmen mit 502 Millionen Euro subventioniert (Stand 2015). Erwin Wodicka - BilderBox.com
Für börsenotierte Unternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern soll ab 1. Jänner eine verpflichtende Frauenquote von 30 Prozent gelten. Gelten würde das aber nur für Aufsichtsräte (also die Kontrollgremien), nicht aber für die operative Führung der Firmen. Die Presse
Der zurückgetretene Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) wollte die Studienbeihilfe um 25 Millionen Euro aufstocken (auf insgesamt 225 Millionen Euro pro Jahr). Der SPÖ war das bisher zu wenig. Sie will eine höhere Aufstockung sowie die laufende Valorisierung der Stipendien, sobald die Inflation einen Schwellenwert von fünf Prozent übersteigt.
Geplant sind "Schulcluster", in denen ein Direktor bis zu acht Schulen leiten soll, sowie mehr Schulautonomie - konkret mehr Spielraum der Direktoren bei der Auswahl der Lehrer und die Abschaffung der Klassenschülerhöchstzahl. Die Presse
In der Debatte um die dritte Start- und Landebahn am Flughafen Wien (Bild) hat Kanzler Kern im April vorgeschlagen, die Zuständigkeit für die Genehmigung von Betriebsanlagen beim Bund zu bündeln. Zwar wird das gewerbliche Betriebsanlagenrecht schon jetzt vom Bund geregelt, Bereiche wie Baurecht, Feuerpolizei oder Naturschutz sind aber Ländersache. Außerdem unterstützt die SPÖ die noch vom früheren Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) vorgeschlagene Staatszielbestimmung zur Förderung des Wirtschaftsstandortes. Die Presse
Der Ausbau der "Primärversorgung" ist noch bis 21. Mai in Begutachtung. Künftig sollen Hausärzte gemeinsam mit einem Team aus anderen Gesundheitsberufen (Pfleger, Therapeuten) zusammenarbeiten. Das soll die Spitalsambulanzen entlasten. Die Presse
Für Kleinunternehmer und Selbstständige soll es Erleichterungen geben: Wird ein Mitarbeiter krank, soll Firmen mit maximal zehn Angestellten künftig 75 Prozent (statt die Hälfte) der Entgeltfortzahlung ersetzt werden. Außerdem sollen Unternehmer, die selbst länger als 43 Tage krank sind, rückwirkend ab dem 4. Tag 30 Euro Krankengeld bekommen. www.BilderBox.com
Die SPÖ tritt für ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr ein. Außerdem stehen Verhandlungen mit den Ländern an, weil der Bund-Länder-Vertrag ("15a-Vereinbarung") zur Kinderbetreuung mit Jahresende ausläuft. www.BilderBox.com
Zur Vermeidung von Gewinnverschiebungen ins Ausland hat die SPÖ zuletzt ein Paket vorgelegt. Neben der auch im Regierungsprogramm verankerten Ausdehnung der Werbeabgabe auf den Online-Bereich will die Partei auch eine Steuer auf "tauschähnliche Umsätze" - das würde Unternehmen wie Google und Facebook treffen, die Daten ihrer Benutzer sammeln und damit in weiterer Folge Geld verdienen. APA/AFP/JOSH EDELSON
SICHERHEITSPOLIZEIGESETZ Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) will die Videoüberwachung deutlich ausdehnen und hat dazu einen mit der SPÖ nicht akkordierten Entwurf vorgelegt: ÖBB und Asfinag sollen Videomaterial herausgeben müssen, außerdem sollen Autokennzeichen sowie Farbe und Marke der Autos für 48 Stunden gespeichert werden. Auch Private sollen ihre Aufzeichnungen zugänglich machen dürfen. Die Presse
Im Regierungsprogramm hat die Koalition einen regelmäßigen Inflationsausgleich bei der Lohnsteuer vereinbart. Für die unteren beiden Tarifstufen sollte diese Steuerreform automatisch erfolgen, sobald die Inflation den Schwellenwert von fünf Prozent überschreitet. Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) bestand zuletzt aber auf einer Abgeltung der kalten Progression auch für Besserverdiener. Die SPÖ will im Gegenzug auch die Negativsteuer regelmäßig erhöhen. APA/GEORG HOCHMUTH
Die ÖVP will die Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder an die dortige Kaufkraft anpassen. De facto würde das auf eine Kürzung für die Familien osteuropäischer Arbeitnehmer hinauslaufen. Im Regierungsprogramm war dafür eine europäische Lösung angedacht, die ÖVP drängt allerdings auf eine gesetzliche Regelung auf nationaler Ebene. Die Presse
Um Arbeitslosen die Übersiedlung an einen neuen Arbeitsort schmackhaft zu machen, ist im Regierungsprogramm die Ausdehnung der einschlägigen Förderungen vorgesehen. Fahrtkosten sollen weiterhin mit 203 Euro monatlich subventioniert werden, die Förderung der Wohnkosten von 203 auf 400 Euro nahezu verdoppelt (maximal zwei Jahre).
Mehrfachstrafen für ein und dasselbe Delikt sollen zurückgedrängt werden. Im Regierungsprogramm ist zur Abschaffung des Kumulationsprinzips in Verwaltungsverfahren eine Sozialpartnerlösung bis 30. Juni vorgesehen oder, wenn das nicht gelingt, ein Vorschlag der Regierung. www.BilderBox.com
Beim Fremdenrecht haben sich SPÖ und ÖVP bereits im April geeinigt. Demnach soll es höhere Strafen für abgewiesene Flüchtlinge geben, die das Land nicht verlassen, sowie Beugehaft, wenn sie die Mitwirkung an der Ausreise verweigern. Schubhaft soll bis zu 18 Monate in Serie möglich sein. Weiters geplant: eine "Wohnsitzauflage" für Asylwerber, um Wien zu entlasten.
Die Umstellung der Universitätsfinanzierung soll ab 2019 mehr Geld (zusätzlich 1,35 Milliarden Euro über drei Jahre), aber auch neue Zugangsbeschränkungen bringen. Verteilt werden sollen die Mittel u.a. abhängig von der Zahl der Studienanfänger, der prüfungsaktiven Studenten und der Absolventen. Die Presse
Was SPÖ und ÖVP noch umsetzen wollen
Aus seinem Justizressort befinde sich das Paket zur Strafprozessordnung (StPO) mit einer Nachfolgeregelung zur früheren Vorratsdatenspeicherung in Abstimmung mit dem Koalitionspartner. Mit der Möglichkeit zur Überwachung von Whatsapp und Skype soll eine "Lücke" bei der Telefonüberwachung geschlossen werden. Fertig wäre aus seiner Sicht auch eine Reform des Privatstiftungsrechts. Unerledigt sei noch etwa das Fremdenrecht oder das Sicherheitspolizeigesetz.
"Es war wirklich oft zum Mäusemelken"
Jetzt gebe es jedenfalls eine neue Situation, in der die Regierungsarbeit "abgewickelt" werden soll, eine Art "Kassasturz", in der es ausschließlich um die sachpolitische Umsetzung gehe, so Brandstetter. Daran sei auch Bundeskanzler Kern gelegen, berichtete der Vizekanzler und sieht gute Chancen zur Umsetzung. Nächste Woche soll ein weiteres Gespräch der beiden stattfinden, zumal noch nicht alle Themen besprochen wurden, so etwa der Mindestlohn und die Arbeitszeitflexibilisierung. Brandstetter ist generell der Meinung, das Potenzial der Regierung sei nicht voll ausgeschöpft worden und vieles im Streit untergegangen: "Es war wirklich oft zum Mäusemelken."
Jetzt soll jedenfalls Chaos verhindert werden und dieser Aufgabe sieht er sich gewachsen. "Das ist kein Neustart, sondern eine Erledigung", stellte Brandstetter fest. Die Koordinierung werde es weiterhin geben, auch wurden laufende Gespräche mit Kern vereinbart. In Abstimmung sei er natürlich auch mit dem neuen ÖVP-Obmann und Außenminister Sebastian Kurz. Der neue designierte ÖVP-Chef hatte erklärt, er wolle die SPÖ im Nationalrat nicht überstimmen. Was passiert wenn die SPÖ dies tut, ließ Brandstetter offen und verwies auf Kurz. Überhaupt hält er diese Überlegungen für überschätzt, zumal es nun ohnehin schon die Neuwahl gebe: "Was soll passieren?"
Von der Frage nach einer etwaigen Kandidatur bei der Nationalratswahl zeigte sich der parteifreie Minister "überrascht": "Mit der Frage habe ich mich noch nicht beschäftigt." Dass er den Posten des Vizekanzlers übernimmt, dazu habe er sich nach einem längeren Telefongespräch mit Kurz entschieden. Für die Aufgabe werde er nun ein, zwei zusätzliche Mitarbeiter brauchen. Er selbst betonte: "Sie haben einen Vizekanzler vor sich ohne politische Ambitionen." Warum er sich diesen Job nun überhaupt antut, wurde er auch gefragt und erklärte: "Besonders schwierige Aufgaben haben mich immer ganz besonders gereizt."
Die EU-Abgeordnete und neue ÖVP-Generalsekretärin, Elisabeth Köstinger, will sich für eine potenzielle Koalition »alle Optionen offen lassen«. In der Partei gebe es »eine neue Art des Miteinanders«. Und das bedeutet zugespitzt: Der Chef entscheidet.
Parteichef Sebastian Kurz baut die Parteizentrale um: EU-Mandatarin Elisabeth Köstinger wird Generalsekretärin, Vize-Kabinettschef Axel Melchior Geschäftsführer.