Wiens Ex-Bürgermeister mischt sich in den Streit zwischen der Stadt und der Regierung ein - und kritisiert dabei Sebastian Kurz scharf: "Faktenbasierte Politik war noch nie die Stärke des Kanzlers." Er, Michael Häupl, selbst stehe übrigens "um 5:30 Uhr" auf.
Michael Häupl, einstiger Wiener Bürgermeister und Chef der Landes-SPÖ, zeigt sich darüber erbost, wie die Bundesregierung mit der Bundeshauptstadt umgeht. Die Fehde zwischen der roten Stadtregierung und der türkis-blauen Koalition hat ihren Ursprung in der geplanten Reform der Mindestsicherung, die Volkspartei und Freiheitliche vorantreiben, Wien in dieser Art aber nicht umsetzen will. Beide Seiten drohten zuletzt mit dem Gang vor Gericht. Besondere Kritik hatte in diesem Zusammenhang die Aussage von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ausgelöst, der gemeint hatte, dass in vielen Familien in Wien in der Früh nur noch die Kinder aufstünden, weil die Eltern nicht arbeiten gingen.
„Sehr zum Missfallen des Bundeskanzlers stehe ich als Wiener sehr früh auf. Um 5.30 Uhr, weil meine Frau noch immer im Spital arbeitet“, sagte dazu nun Häupl im Gespräch mit dem „Kurier“. Und er fügte hinzu, dass er die Bemerkung von Kurz, der selbst Wiener sei, „als extrem beleidigend für die fleißigen Wiener empfunden“ habe. In Ottakring, wo Häupl neben einer Schule wohnt, komme jedenfalls „ein erheblicher Teil der Kinder mit den Eltern“. Insofern: „Das ist eine doofe Bemerkung, das muss man ganz offen sagen.“ Freilich könne der Kanzler sagen, die Wiener Sozialdemokraten schaue an der Wirklichkeit vorbei, so der Ex-Stadtchef, „nur seine Wirklichkeit ist nicht die Stadtwirklichkeit“.
Zwar wolle er nicht bestreiten, dass es „Bürger gibt, die ‚owezahn‘“, meinte Häupl, „aber das ist eine lächerlich kleine Prozentzahl“. Nachsatz: „Faktenbasierte Politik war noch nie die Stärke des Kanzlers.“
Warum setzt Kurz "seine Argumentation so tief an"?
Zu der Aussage des Kanzlers, in Wien gebe es 15.000 Obdachlose und 13 Prozent Arbeitslosigkeit, sagte Häupl im Interview: „Wir haben sinkende Arbeitslosen- und Sozialhilfezahlen. 80 Prozent der Mindestsicherungsbezieher sind Aufstocker“, verwies der 69-Jährige auf Personen, die „einfach zu wenig Pension oder Gehalt haben“.
Die Sozialhilfe soll künftig einheitlich 863 Euro betragen. Bei Zuwanderern mit schlechten Deutschkenntnissen sind Kürzungen vorgesehen, für Alleinerziehende und Menschen mit Berhinderung gibt es einen Bonus. Der Zugriff auf Vermögen bleibt erhalten, beim Zugriff aufs Eigenheim gibt es aber eine längere Schonfrist. Was sich für Einzelpersonen, Alleinerzieher und Paare mit Kindern ändert – ein Überblick, gefolgt von sechs Rechenbeispielen. APA/ROLAND SCHLAGER
Grundsätzlich sind für einen allein stehenden Mindestsicherungsbezieher 100 Prozent, also 863 Euro, vorgesehen; für ein Paar zwei Mal 70 Prozent des Richtsatzes bzw. 1208 Euro. Für Kinder soll es künftig gestaffelte Beträge geben: für das erste Kind 25 Prozent, für das zweite Kind 15 Prozent und ab dem dritten Kind 5 Prozent des Netto-Ausgleichszulagenrichtsatzes.
Für Alleinerzieherinnen ist zusätzlich zur Mindestsicherung ein Bonus vorgesehen: bei einem Kind 12 Prozent vom Ausgleichszulagenrichtsatz (derzeit 103,5 Euro), bei zwei Kindern 21 Prozent (181 Euro), bei drei Kindern 27 Euro (233 Euro) und für jedes weitere Kind plus drei Prozent. Personen mit Behinderung sollen einen Zuschlag von 18 Prozent (155 Euro) erhalten.
Zuwanderer mit nicht ausreichenden Sprachkenntnissen (Deutsch-Niveau B1 oder Englisch-Niveau C1) sollen eine gekürzte Mindestsicherung von 563 Euro erhalten. Für Drittstaatsangehörige sowie EU- und EWR-Bürger ist eine fünfjährige Wartefrist vorgesehen. Asylberechtigte haben ab dem Zeitpunkt Anspruch, ab dem ihnen der Schutzstatus als Flüchtling zuerkannt wird, Asylwerber bekommen keinen Leistungsanspruch.
Laut Angaben der Regierung rechnet erhielt eine Einzelperson bisher maximal 1243 Euro an Mindestsicherung. Künftig soll sich das ändern – maximal 1122 Euro sollen möglich werden. Gerechnet ist das laut türkis-blauen Unterlagen folgendermaßen: 518 Euro stellt die reguläre „Geldleistung für Erwachsene“ dar 345 Euro wird als Sachleistung, etwa für Wohnen, bereitgestellt 259 Euro kommen aus dem Topf „Variabler Zuschlag für Wohnkosten
Im Falle, dass eine Einzelperson eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung aufweist, könnten bisher ebenfalls 1243 Euro als Maximalbetrag an Mindestsicherung ausbezahlt werden. Die Pläne der Regierung sehen mehr Geld als bisher vor. Konkret: maximal 1321 Euro. Der Schlüssel dahinter: 518 Euro „Geldleistung für Erwachsene“ 345 Euro an „Sachleistungen“ 155 Euro als „Zuschlag für die Behinderung“ 303 Euro an „variablem Zuschlag für die Wohnkosten“
Eine Einzelperson, die der deutschen Sprache nicht im verlangten Fall mächtig ist, muss künftig mit weniger Geld auskommen. Waren bislang maximal 1243 Euro möglich, werden es künftig maximal 729 Euro sein. Konkret wird es anstatt der 518 Euro nur 337 Euro „Geldleistung für Erwachsene“ geben sowie 224 Euro für „Sachleistungen“ 165 Euro an „variablem Zuschlag für die Wohnkosten“
Ein weiteres Rechenbeispiel der Regierung betrifft Alleinerzieher mit zwei Kindern. Diese konnten bislang demnach 1947 Euro maximal geltend machen, nun sinkt dieser Beitrag auf maximal 1806 Euro ab. Die Rechnung zu dieser Summe gestaltet sich folgendermaßen: 518 Euro „Geldleistung für Erwachsene“ 345 Euro für „Sachleistungen“ 345 Euro an „Geldleistung für Kinder“ 181 Euro an „Alleinerzieher-Zuschlag“ 415 Euro an „variablem Zuschlag für die Wohnkosten“
Mindestsicherung in der Höhe von 2748 Euro konnte im bestehenden Modell ein (asylberechtigtes) Paar mit drei Kindern als Höchstbeitrag ausbezahlt bekommen. Eine Summe, die nun absinkt. Der ÖVP-FPÖ-Koalition schwebt ein Maximalbetrag von 2076 Euro vor, der sich wie folgt zusammensetzt: 725 Euro „Geldleistung für Erwachsene“ 483 Euro für „Sachleistungen“ 388 Euro an „Geldleistung für Kinder“ 457 Euro an „variablem Zuschlag für die Wohnkosten“
Ein (asylberechtigtes) Paar, dessen Deutschkenntnisse nicht den Anforderungen der Regierung genügen, wird künftig mit deutlich weniger Geld auskommen müssen. Waren bisher, laut türkis-blauem Rechenkatalog, maximal 2748 Euro erreichbar, werden es künftig höchstens 1526 Euro sein. Gerechnet wird das so: 471 Euro „Geldleistung für Erwachsene“ 314 Euro für „Sachleistungen“ 388 Euro an „Geldleistung für Kinder“ 352 Euro an „variablem Zuschlag für die Wohnkosten“
Single, Paar, Alleinerzieher: Sechs Beispiele zur Mindestsicherung neu
Weiters plädierte Häupl dafür, den Anschuldigungen mit „der Wahrheit“ entgegenzutreten: „Man muss all dem entgegentreten, was hier an Verleumdungen stattfindet.“ Freilich wisse er, dass „man mit Beschimpfungen der Stadt Wien reüssieren kann.“ Aber: „Mit der Emotionalität mit der insbesondere der Herr Vizekanzler, aber auch der Bundeskanzler, dieses Wien-Bashing betreiben, kann es schon sein, dass der eine oder andere die Behauptungen glaubt. Es kommt ja immerhin vom Bundeskanzler. Dieser Verantwortung sollte man sich als Bundeskanzler aber auch bewusst sein.“ Er stelle sich jedenfalls die Frage, weshalb es Kurz für notwendig erachte, „seine Argumentation gegenüber Wien so tief anzusetzen“.
Auf die Frage, ob der nächste Wiener Bürgermeister den Namen Heinz-Christian Strache tragen werde, antwortete Häupl: „Egal, ob Strache gegen mich angetreten ist oder gegen Michael Ludwig antritt: Er wird verlieren.“ Auch an eine blau-türkise Koalition in der Bundeshauptstadt glaubt er nicht: „Die Frage wird sein: Lassen sich die Neos herab, gegen alle Aussagen, die sie bisher getroffen haben, jemanden, der mit Unterstützung der FPÖ Bürgermeister wird, zu wählen.“
Auf einen Blick
Nachdem Wien angekündigt hatte, das Vorhaben des Bundes nicht umsetzen zu wollen, übte ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz scharfe Kritik. Es sei nicht zu akzeptieren, dass in vielen Familien in der Bundeshauptstadt in der Früh nur noch die Kinder aufstehen würden, weil die Eltern nicht arbeiten gehen. In Wien gebe es 13 Prozent Arbeitslose und 15.000 Obdachlose und jeder zweite Mindestsicherungsbezieher sei ein Ausländer, rechnete er vor. Außerdem wachse die Zahl der Sozialgeldbezieher massiv: „Mein Bild von einem erfolgreichen Österreich schaut anders aus.“
Es folgten weitere Stellungnahmen, darunter vom amtierenden Wiener Bürgermeister Michael Ludwig und seinem Sozialstadtrat Peter Hacker (beide SPÖ) sowie ein Konter von FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache, der Wien ein „Förderprogramm für tschetschenische Großfamilien“ vor, immerhin hätten 70 Prozent der Mindestsicherungsbezieher in der Stadt Migrationshintergrund.
Der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) kritisiert die "Propaganda" der Regierung bei der Reform der Mindestsicherung. Sozialministerin Hartinger-Klein will bei Menschen mit Behinderung noch nachbessern.
ÖVP-Sozialstadtrat Hohensinner spricht sich für die von der Regierung geplante Reform der Mindestsicherung aus. Von den 8666 Beziehern waren 3185 Kinder und 5481 Erwachsene.
Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig kritisiert die Regierung: "Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass immer ein Bundesland herausgezogen wird." Er wolle das nicht mehr widerstandslos hinnehmen.
Faktencheck. Die Regierung kritisiert die Stadt Wien bei der Mindestsicherung, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsentwicklung. Vieles davon ist auf den Großstadtfaktor zurückzuführen.