Die neuen Super-Chefs

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Management im Kopf: Folge 96. Komplexität und Menschenführung: Wie die Führungskräfte der neuen Zeit sind und wo man sie findet.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

In den beiden jüngsten Folgen ging es darum, wie man schwierige und professionelle Chefs führt. Diesmal geht es darum, woran man professionelle Führungskräfte für die neue Zeit erkennt und wo man sie findet. Wie verhalten sich Führungskräfte, die in hochdynamischen hyperkomplexen Systemen nachhaltig erfolgreich gestalten, steuern und regulieren können? Was zeichnet Verantwortungsträger aus, welche die Sprache, Signalerzeugung und -verarbeitung der digitalen Welt ebenso gut verstehen wie die der analogen? Wo findet man die Systemkenner, denen die unsichtbaren Hintergründe der Interaktionen zwischen Menschen ebenso vertraut sind wie jene von Menschen und Maschinen sowie Maschinen mit Maschinen? Wie verhalten sich System-Designer, die aus vielen Subsystemen ein gesundes, langlebiges  Ganzes entwickeln können, das sich mit seinem Markt mitentwickelt oder völlig neue Märkte erschließt oder schafft?

Das Experiment

Haben Sie zehn Minuten Zeit und Lust auf ein Experiment? Stellen Sie sich vor einen Spiegel. Sehen Sie sich fünf Minuten lang ganz genau von oben bis unten an, und denken Sie dabei nur an sich selbst. Beantworten Sie danach folgende Fragen.

Die Reflexion

Haben Sie die fünf Minuten durchgehalten? War Ihnen das Experiment zu langweilig? Oder wollten/konnten Sie sich dafür keine Zeit nehmen? Was haben Sie gesehen und gedacht? Worauf haben Sie geachtet? Auf Ihr Gesicht? Ihre Frisur? Ihre Kleidung? Ihre Haltung? Auf Ihren Körper? Auf die Vorgänge in Ihrem Körper? Haben Sie überlegt, weshalb Sie sehen, was Sie sehen? Weshalb Sie fühlen, was Sie fühlen? Wie es kommt, dass Sie atmen, dass Ihr Herz schlägt? Welchen Vorgängen Sie es zu verdanken haben, dass Sie stehen können? Weshalb Sie leben? Was innerhalb Ihrer Haut dafür sorgt, dass Sie tun können, was Sie tun können? Weshalb Ihr Organismus wie von selbst funktioniert? Oder weshalb er nicht wie von selbst funktioniert, sollten Sie gerade medizinisch behandelt werden und sei es nur mit Medikamenten?

Wie die „Super-Chefs“ nicht sind

Es ist viel schneller gesagt, wie professionelle Chefs für Komplexes NICHT sind. Manager, die vor allem auf Äußerlichkeiten achten und für komplexe Angelegenheiten einfache Handlungsvorschriften im Sinne von „Wenn dies…, dann das…“ abgeben bzw. erwarten, können Sie nur für einfache Aufgaben ein- oder durch Roboter ersetzen. Deren Vorstellung, dass auch das Komplexe mit Algorithmen behandelt werden kann, ist eine Fehlorientierung, mit der sie nur Fehlorientierung und Fehlentwicklungen auslösen können. 

Die besten Chefs von heute und morgen

Was sich algorithmisch lösen lässt, delegieren die professionellen Chefs in den nichtlinearen und nichtlokalen Wirkgefügen von heute und morgen an IT-Systeme, Roboter und Künstliche Intelligenz. Äußerliche Merkmale haben für sie viel weniger Bedeutung als innere Vorgänge, die man nicht mit den Sinnen wahrnehmen kann. Sie wissen oder ahnen zumindest, dass hinter allem, was man erfahren kann, hochkomplexe Vorgänge stecken, von denen ungeheuer viele auf den Punkt genau zusammenwirken müssen, damit entstehen kann, was entstehen soll bzw. entstanden ist. Sie meiden für die Erklärungen der nicht wahrnehmbaren Prozesse esoterische Ideen und pseudowissenschaftlichen Humbug. Sie stützen sich nur auf Theorien, welche die Praxis so beschreiben, wie sie tatsächlich und reproduzierbar funktioniert.

Sie lernen und denken viel

Die professionellen Chefs der neuen Zeit wissen oder ahnen zumindest, wie sich eine aktuelle Realität durch Vorstellungen manifestiert. Sie wissen, dass sie sehr genau darüber Bescheid wissen müssen, womit sie es bei komplexen Systemen an sich zu tun haben und womit bei Systemen, mit denen sie gerade beschäftigt sind. Die professionellen Chefs der neuen Zeit lernen und denken viel. Sie verlassen sich dabei aber nicht auf ihre eigenen Erkenntnisse; sie suchen den Dialog mit den Besten auf den jeweiligen Gebieten und vor allem die Korrektur ihrer unbewussten Fehlwahrnehmungen, -einschätzungen, Wissens- und Informationslücken.

Sie beobachten viel, reden wenig

Die Wahrscheinlichkeit, solche „Super-Chefs“ unter den Teilnehmern von Events zu finden, ist eher gering. Wenn sie überhaupt anwesend sind, eher als stille Beobachter aus einer Perspektive, die ihnen guten Überblick gibt. Für viele von ihnen ist Small-Talk Schwerarbeit. Komplexe Themen hingegen machen sie richtig aktiv. Wenn sie reden, stecken sie so gut wie immer in einem intensiven Gespräch mit Wenigen, oft nur Einzelnen. Sollten Sie auf der Suche nach so jemanden sein, stellen Sie sich am besten gleich nach dem Programm in die Nähe des Ausgangs. Denn nicht selten verlassen Ihre Traumkandidaten Managementveranstaltungen als Erste. Auch auf dem Podium findet man sie kaum noch. Die meisten von ihnen haben es längst aufgegeben, gegen den Mainstream anzutreten. Sie wissen, dass sie schneller vorankommen, wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren, einfach umsetzen, was sie für richtig halten und mit ihren Ergebnissen überzeugen.

Vorbildung

Sich bei der Suche an bestimmten akademischen Ausbildungen und Graden zu orientieren, führt nur mit geringer Wahrscheinlichkeit ans Ziel. Die größten Talente haben sich in der Regel privat weitergebildet. Nicht wenige von ihnen haben nie eine Universität von innen gesehen, beherrschen aber solides wissenschaftliches Denken. Mehr Erfolg verspricht das Achten auf das Verhalten. Hochbegabte für Komplexes sind häufig von Dingen fasziniert, die andere für selbstverständlich halten. Zum Beispiel davon, dass die Straßenbahnen einer Großstadt meist pünktlich ihren Fahrplan einhalten. Sie neigen nicht dazu, sich selbst zu inszenieren, weder mit ihrer Kleidung, noch mit ihrem Gehabe oder Statussymbolen. Sie wollen dafür keine Aufmerksamkeit verschwenden. Ihre Vor- und Allgemeinbildung ist breit entwickelt ist. Die meisten haben einen ausgeprägten Sinn für Kunst, Technik, die Biologie, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Sie bringen eine enorme Neugierde dafür mit, wodurch und wie Wesen und Dinge können, was sie können. Sie würden niemals Entscheidungen auf der Basis betriebswirtschaftlicher Lehren treffen, trotzdem sind sie ausgeprägte Ökonomen. Unnötiges, Überflüssiges und Kontraproduktives schaffen sie unverzüglich ab, Hilfreiches sofort an.

Leitfragen

Wenn es um das Lösen von Aufgaben oder Problemen geht, verlieren nie allzu viele Worte, weil sie wissen, dass informativer Overload die Produktivität nur bremst. Sie agieren gut informiert, strukturiert und vorbereitet, geben mit klaren und verlässlichen Modellen Orientierung. Die wichtigsten konstanten Orientierungsmarken sind für sie die Zwecke und Ziele von Vorhaben. Sie führen mit Leitfragen wie: Was brauchen wir, damit der Zweck erfüllt, das Ziel erreicht werden kann? Welche Einstellung, welches Verhalten, welche Ausrüstung, welches Material? In welcher Qualität, zu welcher Zeit, an welchem Ort? Wer stellt was bereit? Wer beschafft was? Wer trägt was bei? Bis wann? Wer hat das Kommando, wenn etwas unklar oder turbulent wird? Welche Expertise brauchen wir, um dies und jenes zu steuern und regulieren, wer hat sie? Wie gehen wir vor, wenn alles völlig anders kommt, als gedacht?

Sie handeln jetzt

Die Profis unter den Chefs der neuen Zeit wissen, dass all ihr Verhalten ein Handeln ist, das erwünschte und unerwünschte lokale und nicht-lokale Wirkungen haben kann. Für sie ist auch das Beobachten, Wahrnehmen, Denken und Sprechen ein Handeln. Sie wissen, dass sie immer JETZT handeln und damit unvorhersagbare Wirkungen auslösen. Sie lassen sich daher nicht nur von ihren Plänen leiten, sondern vor allem von den Wirkungen, die bislang erzielt wurden. Nichts ist für sie wichtiger, als die Information über Wirkungen. Daraus ziehen sie die wertvollste Information aus den Systemen. Das Tempo ihrer Handlungen passen sie der aktuellen Dynamik an, weil sie wissen, dass sie ihre Systeme nur im Griff haben können, wenn sie schneller agieren als ihre Eigendynamiken. In Ihren Terminkalendern findet sich daher immer genug Spielraum für die nötige Flexibilität.

Soziales Umfeld

Ein verlässliches Merkmal von echten Meistern im Umgang mit komplexen Systemen sind auch die Leute, mit denen sie freundschaftlich, partnerschaftlich oder in Kooperationen verbunden sind. Nicht selten finden sie sich über den ganzen Erdball verteilt. Die besten Kandidaten sind vielleicht viel allein, aber nie einsam. Ihre engeren Vertrauten sind in geistigen und sozialen Dingen in der Regel ebenso anspruchsvoll wie sie selbst. Oft steht das soziale Umfeld für einen faszinierend bunten Haufen unterschiedlichster Qualifikationen, Fähigkeiten, Berufe und Tätigkeiten in den verschiedensten Branchen und Bereichen der Gesellschaft.

Ihre Führungskraft

Professionelle Chefs der neuen Zeit betrachten sich nicht als Vorgesetze von Menschen, auch nicht von Arbeitsbereichen, weil sie wissen, dass das wahre Geschehen immer und überall durch viele Einflüsse außerhalb dieser Einheiten entsteht. Sie betrachten sich als Teammitglied, das als Designer, Steuerungs- und Regulierungsexperte für ganze Systeme kooperativ Aufgaben und Probleme löst.  Wenn sie etwas führen, dann also Systeme. Ihre Führungskraft rührt daher, dass sie verstehen, dass fast alles in Unternehmen und Organisationen durch die naturgegebene Selbststeuerung und Selbstregulierung komplexer Systeme vonstattengeht – (ja, genau darüber sollte man heute im Management Bescheid wissen!) Ihnen ist klar, dass es im Grunde nur drei Arten von Eigendynamiken gibt: solche, durch welche sich die nötigen Vorgänge immer mehr und schneller verbessern, solche, durch die sie sich immer mehr und schneller verschlechtern und solche, durch die Systeme in eine Starre verfallen. Sie wissen, worauf es ankommt, damit alles schneller besser wird und sie wissen vor allem, dass es dafür auf alle und alles ankommt. Darüber hinaus ist ihnen klar, dass sie nur wenige, und zwar ganz bestimmte Einflussmöglichkeiten haben.

Selbstvergessen und systemversessen

Professionelle Chefs der neuen Zeit kennen nur zwei verschiedene Zeiten. Eine, in der all ihre Aufmerksamkeit den Systemen gilt, für die sie verantwortlich sind und eine, in der all ihre Aufmerksamkeit ihnen selbst, sowie allen Wichtigen und allem Wichtigem in ihrem Privatleben gilt. Sie sind, während sie arbeiten, nie mit ihren eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnissen beschäftigt. Meist nehmen sie diese gar nicht wahr. Sie arbeiten – aus gesundem Egoismus – selbstvergessen und systemversessen. Weil sie wissen, dass in gut konfigurierten Systemen das Meiste von dem, was passieren soll, wie von selbst passieren kann. So wie in Ihrem Organismus. Sie legen es auf diese Art von Eigendynamik an, aus der das Sinnvolle, Innovative und Langlebige wie von selbst entsteht, weil sie nur dann auch genug Zeit für sich selbst, ihre Lieben und Freunde gewinnen –  für jene Menschen, von denen sie sich emotional und geistig ernähren. Sie wissen, dass man das Wichtigste für wirtschaftliche, berufliche und private Erfolge nicht kaufen kann. Geld ist daher für sie nicht das Wichtigste. Aber sie wissen, was sie wert sind… Damit ist auch klar, wo man sie finden kann: Mit höchster Wahrscheinlichkeit findet man sie entweder bei ihrer Arbeit, oder nicht.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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