Wiener Polizisten zum Selbstmord "benutzt"?

(c) APA (Herbert Neubauer)
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Ein lebensmüder 31-Jähriger wird von einem Polizisten erschossen - er könnte den Beamten zur Schussabgabe provoziert haben. Der Mann soll bereits in der Vergangenheit wiederholt von Selbstmord gesprochen haben.

Wien. Hat der 31-jährige Christoph S. einen Wiener Polizisten gezielt dazu benutzt, dass dieser ihn aus einer absichtlich herbeigeführten Bedrohungssituation heraus erschießt und so den geplanten Selbstmord quasi durch Fremdeinwirkung vollstreckt? Die Theorie klingt auf den ersten Blick abstrus, wird im Zusammenhang mit den Ermittlungen um die Umstände der tödlichen Schüsse aber ernsthaft überprüft.

„Wir ermitteln derzeit alle denkbar möglichen Hergänge des Zwischenfalls. Jener eines möglicherweise inszenierten Suizids ist auch mit dabei“, bestätigt Martin Kreutner vom Büro für Interne Angelegenheiten (BIA), das den Fall für die Staatsanwaltschaft Wien untersucht. Was war geschehen?

Zeugin befragt

Sonntagmittag betraten in der Favoritener Neilreichgasse zwei Streifenbeamte gemeinsam mit der Lebensgefährtin von S. die Wohnung des Paares, in der sich S. verschanzt hielt. Zuvor hatte er seiner Freundin am Telefon seinen Selbstmord angekündigt. Im anschließenden Gespräch mit einem der Polizisten griff der 31-Jährige zu einer Gaspistole, die einer echten Schusswaffe sehr ähnlich sieht, und richtete sie auf den Beamten. Der griff in Notwehr zur Waffe, feuerte zwei Mal, ein Mal davon tödlich. So lautet die Version des Schützen.

Die Lebensgefährtin des Getöteten – sie musste den Zwischenfall mitansehen – konnte am Montag erstmals dazu befragt werden. Ob sie die Aussage des Polizisten stützte, gaben die Behörden allerdings nicht bekannt. „Presse“-Recherchen ergaben, dass der Getötete in der Vergangenheit mehrmals seinen Selbstmord angedeutet haben soll.

Gutachten sollen Klarheit bringen

„Es gibt Menschen, die vorhaben, sich zu töten, es aber nicht schaffen, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Manche von ihnen versuchen dann, andere dafür zu instrumentalisieren“, sagt Markus Wirtenberger vom Psychologischen Dienst im Innenministerium. Wenngleich handfeste Beweise dafür meistens fehlen, weil die Getöteten nicht mehr befragt werden können oder entsprechende Abschiedsbriefe nicht vorhanden sind, gehen Experten davon aus, dass es dieses Phänomen tatsächlich gibt. In der Fachliteratur nennt man es „suicide by cop“.

Manche Psychologen glauben sogar, dass das eigentliche Motiv vieler Amokläufer die Hoffnung ist, während ihrer Tat erschossen zu werden. 2002 etwa, als der 33-jährige Richard Durn in einem Pariser Vorort acht Unschuldige erschoss, rief der Täter immer wieder laut „Tötet mich!“. Weil es während des Massakers nicht dazu kam, stürzte er sich während einer späteren Befragung aus dem vierten Stock des Polizeigebäudes und starb.

Ob auch S. in vergleichbarer Absicht handelte und deshalb den Polizisten mit der Gaspistole bedrohte, wird wohl nie restlos geklärt werden. Gegen diese Theorie spricht auch, dass derartige Selbstmorde in Europa extrem selten sind (in den USA gibt es eigene Selbsthilfegruppen für betroffene Beamte und Hinterbliebene).

Neben der Selbstmordtheorie überprüft das BIA auch, ob der Schusswaffengebrauch des Beamten überhaupt angemessen war. Entsprechende (gerichtsmedizinische und ballistische) Gutachten sind in Ausarbeitung.

Auf einen Blick

■Verlauf: Sonntagmittag fuhren zwei Streifenpolizisten zur Wohnung eines Selbstmordgefährdeten in Wien Favoriten. Im Gespräch mit dem 31-Jährigen zückte dieser eine Gaspistole und richtete sie auf einen der Beamten. Dieser gab zwei Schüsse aus seiner Dienstwaffe ab. Einer traf den Mann in die Schulter, der andere mitten in die Brust.

■Ermittlungen: Das Büro für interne Angelegenheiten (BIA) im Innenministerium überprüft den Zwischenfall nun. Die Ermittler gehen auch der Theorie nach, wonach der Getötete den Polizisten bewusst zur Schussabgabe provoziert haben könnte, um so den geplanten Selbstmord quasi durch Fremdeinwirkung zu vollstrecken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2009)

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