Der Kapitalismus, eine friedensstiftende Kraft

Kapitalismus eine friedensstiftende Kraft
Kapitalismus eine friedensstiftende KraftReuters
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Der kanadische Psychologe und Linguist Steven Pinker sieht die Welt am richtigen Weg, kritisiert das libertäre Erbe der 68er und fordert mehr Disziplin.

Die Presse: Herr Pinker, Sie behaupten: Je besser es uns geht, desto mehr nimmt die Gewalt ab. Hat also der Kapitalismus die Welt gerettet?

Steven Pinker: Der Kapitalismus ist eine friedensstiftende Kraft. Einerseits, weil er Wohlstand bringt und somit Mittel freisetzt, um die Gewalt einzudämmen – einen guten Polizeiapparat, eine funktionierende Justiz und Bildung. Andererseits ist der Kapitalismus darauf angewiesen, dass wir kooperieren, denn wir müssen schauen, was unsere Kunden wollen, um es ihnen zu verkaufen. Und im Kapitalismus sind lebende Menschen wertvoller als tote, weil nur Lebende kaufen und verkaufen können. Viele Studien zeigen, dass Länder mit freien Märkten in weniger Kriege verwickelt sind. Nehmen wir China, das noch nicht wirklich demokratisch ist: Als sich China in den 1980er-Jahren von einem autoritären kommunistischen zu einem militaristischen kapitalistischen Staat gewandelt hat, brachte es weit weniger seiner eigenen Staatsbürger um – und hat seitdem keinen Krieg mehr angefacht. Es gibt also eine starke Verbindung zwischen Kapitalismus und Frieden.

Gute Presse

Die Presse will mit dieser Sonderausgabe einmal bewusst im Positivem tun, was wir immer unbewusst im Negativem tun: das andere ausblenden.

>>> Zum KommentarWelche Rolle spielt dabei die Religion?

Größtenteils eine negative. Denken wir nur an die Massenmorde der Kreuzzüge, die europäischen Religionskriege und den Taiping-Aufstand (Mitte des 19. Jahrhunderts in China, Anm. d. Red.), der zum schlimmsten Bürgerkrieg der Geschichte geführt hat. Viele religiöse Autoritäten haben sich mit Händen und Füßen gegen die humanistischen Reformen der Aufklärung gewehrt, auch gegen die Abschaffung der Folter. Religionen – zumindest das Christentum – haben sich für die Misshandlung von Tieren stark gemacht, weil sie angeblich zum Nutzen des Menschen geschaffen wurden. Sie haben sogar das Schlagen von Kindern gerechtfertigt, weil einigen Glaubensvorstellungen zufolge Kinder vom Teufel besessen sind – und man das Böse aus ihnen prügeln muss. Doch auch Religionen wandeln sich und seit der Aufklärung sind die meisten humaner geworden.

Stichwort Aufklärung: Glauben Sie, dass Philosophen wie John Locke oder Immanuel Kant die Welt verändert haben?

Aber ja, das haben sie! John Locke beispielsweise hat unmittelbar Thomas Jefferson und die anderen Gründungsväter der amerikanischen Verfassung inspiriert, wodurch die erste langlebige Demokratie geboren war. Die Argumente Jeremy Benthams und Cesare Beccarias haben entscheidend dazu beigetragen, dass Homosexualität nicht mehr strafbar ist und Foltermethoden wie Rädern und Ausdärmen der Vergangenheit angehören. Und in jüngster Zeit greift die Tierschutzbewegung viele Gedanken Peter Singers auf.

Philosophen streiten sich unentwegt darüber, woher denn unsere moralischen Werte kommen. Haben diese Werte einen immateriellen Ursprung, kommen sie vielleicht aus einem platonischen Ideenhimmel?

Oh nein, sie entstammen schlichtweg der biologischen Veranlagung rationaler, sozialer Akteure, die alle ihr Wohlbefinden anstreben. Wenn ein Lebewesen sozial und kommunikativ ist, dann wird es alle seine Mitwesen dazu anhalten, ihm nicht zu schaden. Und sobald es das tut, ist es dazu verpflichtet, seinerseits keinen Schaden anzurichten. Wenn ich von Ihnen verlange, dass Sie nicht mein Baby töten, dann habe ich nicht das Recht, Ihr Baby zu töten. Wir müssen einfach dieselben Regeln befolgen, und deshalb muss jede Vorschrift mit einem „Sollen“ oder „Müssen“ universalisierbar sein. Genau das geschieht bei der Goldenen Regel oder dem Kategorischen Imperativ.

Gott oder andere immateriellen Ursachen spielen dabei also keine Rolle. Was halten Sie dann vom Ausspruch des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski: „Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt“?

Dostojewski liegt völlig daneben! Gottesgläubige haben einige der schlimmsten Gräueltaten der Menschheitsgeschichte verübt. Und die säkularsten Länder, namentlich die Demokratien in Nord- und Westeuropa, sind die friedfertigsten Staaten seit Menschengedenken. Dostojewski hat also unrecht.

Aber welche Faktoren regulieren unser Zusammenleben, wenn Gott tot ist?

Nehmen wir ein Beispiel: Die Gewaltrate ist in den 1960er-Jahren deshalb nach oben geschnellt, weil diese Ära jede Form der Selbstbeherrschung verunglimpft hat. Selbstkontrolle war damals eine üble Sache. Es wurde von einem erwartet, dass man sein eigenes Ding dreht, dass man alles raushängen lässt. „Take a Walk on the Wild Side!“ – genau das war die Botschaft der 68er. Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass sich die Gewaltrate damals mehr als verdoppelt hat.

Was ist die Lehre, die wir aus den 1960ern ziehen können?

Ganz einfach: Wir brauchen mehr Disziplin!

Benötigen wir dann eigentlich ein Ventil für unsere Aggressionen – müssen wir boxen oder Fußball spielen, um unsere aufgestaute Wut zu kanalisieren?

Ich glaube nicht, dass unsere Aggressionen wie in einem Dampfkessel brodeln und sich ständig entladen wollen. Aggressionen sind nicht vergleichbar mit dem Drang, niesen zu müssen, seinen Hunger zu stillen oder gar seinen Sexualtrieb auszuleben. Sicherlich bereitet es Menschen Freude, sich gewalttätige Filme anzuschauen. Das heißt aber nicht, dass sie tagtäglich eine Dosis Gewalt in den Medien konsumieren müssen, damit ihnen im realen Leben nicht die Sicherungen durchbrennen. Aggressionen sind viel situationsgebundener: Wir üben Gewalt aus, wenn wir provoziert, beleidigt oder betrogen werden – oder wenn sich uns die Gelegenheit bietet, an eine begehrenswerte Sache zu gelangen und uns das Opfer egal ist. In solchen Momenten kommt es auf unsere Selbstdisziplin an.

Während alle Welt schwarzmalt und den Kollaps der Menschheit nahen sieht, scheinen Sie recht optimistisch zu sein: Was wird uns die Zukunft bringen?

Ich glaube, dass sich einige Trends fortsetzen werden: Wahrscheinlich wird es mehr demokratische Staaten geben, die Gewalt gegen Frauen und Kinder wird zurückgehen und Homosexuelle werden weniger verfolgt. Andererseits besteht immer die Gefahr, dass irgendwo ein Bürgerkrieg entflammt, ein Einzelner einen Terroranschlag verübt oder ein Diktator entscheidet, dass es an der Zeit ist, ein früheres Unrecht zu vergelten oder eine bestimmte Ideologie zu realisieren.

Wir haben gerade den siebenmilliardsten Erdenbewohner begrüßt und die Welt platzt aus allen Nähten: Sind da nicht Kriege programmiert?

Ich glaube nicht: Im Gegensatz zu Ratten werden Menschen nicht zwangsläufig aggressiver, bloß weil sie zusammengepfercht sind. Dann müsste ja Hongkong die gewalttätigste Stadt der Welt sein – und vermutlich ist es die friedlichste. Wegen des Klimawandels kann es natürlich passieren, dass wir nicht alle Menschen ernähren können. Doch der Streit um Ressourcen ist selten der Hauptgrund für Kriege, die meisten Kriege wurden aufgrund von Rache, Gerechtigkeit, Ideologien und dem Bedürfnis nach Sicherheit ausgetragen. Nur wenige Staaten kämpfen um Wasser.

Auf einen Blick

Steven Pinker, Jahrgang 1954, unterrichtet derzeit Evolutionspsychologie an der Harvard University und betätigt sich nebenher als Buchautor. Der Kanadier wurde 2004 vom „Time Magazine“ unter die 100 einflussreichsten Denker der Welt gereiht, die US-Zeitschrift „Foreign Policy“ zählte ihn 2010 und 2011 zu den „Top Global Thinkers“.

Das jüngste Werk des Populärwissenschaftlers trägt den Titel „The Better Angels of Our Nature“ (dt. „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“) und ist im Vorjahr in den USA erschienen. Darin vertritt Pinker die provokante These, derzufolge die zwischenmenschliche Gewalt global betrachtet seit Jahrhunderten stetig zurückgeht. Kritiker warfen dem Autor vor, die Weltkriege des 20. Jahrhunderts sowie den Holocaust als statistische Ausreißer zu kategorisieren – und somit auszublenden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2012)

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