Vor dem Versteck des toten Terroristen

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Reportage vom 8. 5. In Abbottabad glaubt kaum jemand, dass Pakistans Armee vom US-Angriff auf das hiesige Haus Osama bin Ladens nichts wusste. Viele Bürger sind wütend auf die Amerikaner. Ein Lokalaugenschein.

Billa Abdullah ist immer noch völlig aufgeregt: „Um halb eins in der Früh hat mich der Krach aufgeweckt“, erzählt der 17-jährige Bursch mit lauter Stimme. Mit Jeans und einem dunklen T-Shirt bekleidet steht er im Osten der Ferienstadt Abbottabad an einem schmalen Schotterweg. Etwa 100 Meter hinter ihm ist es zu sehen, das mehrstöckige weiße Gebäude, in dem US-Elitesoldaten am Montag den Terrorpaten Osama bin Laden getötet haben.

Als die amerikanischen Helikopter von Afghanistan her Kurs auf die idyllische Kleinstadt in den pakistanischen Bergen nahmen, war Abdullah schon zwei Stunden lang im Bett. Doch der Lärm der Aktion sei nicht zu überhören gewesen, erzählt er. Mindestens 100 weitere Nachbarn in der Umgebung seien so wie er aus ihren Häusern gelaufen. „Den einen Helikopter sah ich sogar noch abheben“, sagt Abdullah.

Zeugen widersprechen Regierung. Der „Krach“, von dem er erzählt, dürfte der Absturz des zweiten Hubschraubers, vermutlich ein bisher unbekanntes Modell eines Tarnkappen-Hubschraubers, gewesen sein. Tatsächlich bestätigen mehrere Dutzend Augenzeugen in Abbottabad, von dem Lärm geweckt worden zu sein.

„Unmöglich“, meint Ali Asgher zu den Beteuerungen der Regierung, wonach man von dem Angriff nichts gewusst haben will. Der 45-Jährige erzählt, er sei ebenso wie Abdullah und viele andere in Richtung der Villa gelaufen und dort bereits von pakistanischen Sicherheitskräften gestoppt worden, um dem Anwesen nicht zu nahe zu kommen. „Was hier genau vorging, wusste ich nicht“, sagt Asgher, dessen Haus 200 Meter von dem Ort entfernt liegt, auf den nicht nur die US-Regierung in Washington vor einer Woche gebannt geblickt hat.

Auch wenn die Umstände rund um bin Ladens Tod immer noch für Verwirrung sorgen: Die, inklusive ihrer Vororte, rund eine Million Einwohner zählende Stadt Abbottabad wird nie mehr so sein wie früher. Am Karakorum Highway gelegen, in einem Tal zwischen frühlingsgrünen Gebirgszügen, kommen zwar immer wieder ausländische Reisende vorbei, um Richtung Norden in den Himalaya zu fahren. „Aber so einen Ansturm wie momentan habe ich noch nie erlebt“, sagt der arbeitslose Asgher.

Weil er die Stadt, die etwa zwei Autostunden nördlich Islamabads liegt, wie seine Westentasche kennt, verdient sich Asgher nun als Reiseführer ein nettes Zubrot. Er weist den vielen Schaulustigen, die auch aus ganz Pakistan kommen, den Weg in die Nähe des Anwesens. Wo bis vor Kurzem noch der meistgesuchte Mensch und Terrorist der Welt gelebt hat, und das angeblich ganz unbemerkt, drängen sich nun Touristen und Journalisten, um einen Blick auf sein Haus zu erhaschen. „Das ist schon etwas Außergewöhnliches, erklärt Asgher mit einem Lächeln auf den Lippen.


„Keine Chance“, faucht der Soldat. Weniger entspannt als der Einheimische reagiert die Armee auf die vielen Besucher. Am Samstag riegelten die Soldaten das Anwesen in einem Umkreis von 100 Metern völlig ab. Hieß es zunächst noch, man treffe bloß „Vorbereitungen“, weil das Haus zur Besichtigung freigegeben werden solle, wurde das später dementiert. „Keine Chance, auch in den nächsten Tagen nicht“, erklärt ein groß gewachsener Soldat mit zwei Gewehren in der Hand und einer Sonnenbrille im Gesicht.

„Das hat schon seinen Grund, genaue Nachforschungen sind unerwünscht“, sagt ein pakistanischer Journalist, der seinen Namen nicht nennen will, weil er für seine eigene Zeitung anonym in Abbottabad recherchiert. „Es ist unmöglich, dass Regierung und Armee nicht von der Attacke wussten“, ist er überzeugt. Gute Gründe für diese Annahme hat der Reporter: Etwa, dass die renommierteste Militärbasis des Landes nur wenige Meter von bin Ladens Anwesen entfernt ist. „Zwei US-Hubschrauber halten sich direkt nebenan eine Dreiviertelstunde lang auf, und das Militär will nichts bemerkt haben? Das halte ich für ausgeschlossen.“

Genauso wie der Journalist glaubt mittlerweile auch ein Gutteil der pakistanischen Bevölkerung, dass Regierung und Armee durchaus mit den Amerikanern kooperiert haben, das aus Angst vor Vergeltungsschlägen der al-Qaida aber geheim halten wollen. „80 Prozent unserer Einwohner sind schlicht und einfach wütend, sie fühlen sich in ihrer Unabhängigkeit verletzt“, erklären der arbeitslose Ali Asgher und der Jugendliche Billa Abdullah unisono.

Die Spitze der Armee will sich zu dem heiklen Thema unterdessen ebenso wenig äußern wie die vor dem Anwesen bin Ladens stationierten Soldaten. Mittlerweile haben sie die Absperrung noch weiter weg von der Villa verlegt. Einer der Soldaten greift sogar kurz zum Sturmgewehr, als ein Anrainer hinter seinem Rücken die Absperrung passieren will. Erst die Erklärung, dass die Wohnadresse des älteren Herrn hinter der Straßensperre liegt, beruhigt die Situation.

„Verschwinden Sie alle, hier gibt es nichts mehr zu sehen“, ruft einer der Soldaten schließlich, während die Abendsonne hinter die Gebirgszüge im Westen der Stadt sinkt. „Was in jener Nacht wirklich passiert ist, und wer alles davon gewusst hat, werden wir sowieso nie erfahren“, sagt Asgher, ehe er sich zum Abendgebet aufmacht. „Dass Pakistan nach dem Tod bin Ladens jetzt zur Ruhe kommt, glaube ich jedenfalls nicht.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2011)

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