Ulrike Lunacek und Ingrid Felipe ziehen aus dem grünen Wahldebakel Konsequenzen. Felipe geht nach Tiriol zurück, Lunacek nimmt sich eine politische "Pause". Vize-Klubchef Werner Kogler übernimmt eine Bundespartei ohne Nationalrats-Abgeordnete.
„Personelle Konsequenzen müssen zum Schluss kommen und nicht zu Beginn“, hieß es bei den Grünen noch am Montag. Tags darauf war das vergessen. Die personellen Konsequenzen standen doch am Beginn: Die erst kürzlich eingeführte weibliche Doppelspitze ist Geschichte. Die grüne Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek zieht sich ebenso wie die Grünen-Bundessprecherin Ingrid Felipe zurück. Vize-Klubchef Werner Kogler wird die Partei interimistisch übernehmen. Näheres will man am Freitag im erweiterten Bundesvorstand besprechen.
Der engere grüne Kreis tagte am Dienstag – hinter verschlossenen Türen. Als der Tagungsort durchsickerte, wurde dieser sogar verlegt. Trotzdem wurde noch vor offiziellem Sitzungsende der erste Rücktritt bekannt. Nach nicht einmal vier Monaten an der Parteispitze geht die 39-jährige Felipe zurück nach Tirol, wo kommendes Jahr der Landtag gewählt wird. Sie wolle ihrem Bundesland „mit voller Energie“ zur Verfügung stehen, sagte Felipe vor zahlreichen Journalisten. „Wenn ich den österreichischen Grünen etwas Gutes tun kann, dann dass wir in Tirol gut abschneiden und nach einem schwierigen Jahr die Trendwende schaffen.“
"Unverhofft kommt oft": Unter dieses Motto stellte Grünen-Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek ihren Wahlkampf und gab als Ziel die Zweistelligkeit aus. Daraus wurde nichts, vielmehr mussten sich die Grünen nun nach 31 Jahren aus dem Parlament verabschieden. Für Lunacek endete der Wahlkampf in einer politischen "Pause". Sie legte alle Ämter in Partei und im EU-Parlament nieder. APA/HERBERT PFARRHOFER
Es war die dritte Spitzenkandidatur der Niederösterreicherin und immerhin schon die zweite nach internen Turbulenzen. Als sie bei der EU-Wahl 2009 Johannes Voggenhuber als Listenersten abgelöst hatte, reagierte dieser ebenso beleidigt wie diesmal Peter Pilz, weil dieser von der Basis nicht seinen Wunsch-Listenplatz zugewiesen bekommen hatte. APA/ROLAND SCHLAGER
Der Unterschied zu damals, als es noch relativ glimpflich abging: Die Grünen befanden sich heuer schon im Vorfeld im Tiefflug und Pilz machte sich im Gegensatz zu Voggenhuber selbstständig und brachte seine ehemalige Heimatpartei an den Rand der Bedeutungslosigkeit. Lunacek hatte dem populistischen Weggefährten alter Tage "nur" Sachpolitik entgegen zu setzen und damit sichtlich nicht das, was der Wähler des Jahres 2017 wünschte. APA/EXPA/SEBASTIAN PUCHER
Wie gar nicht so wenige Grüne stammt Lunacek aus einem konservativen Elternhaus. Ihr Vater war unter anderem Generaldirektor bei der Raiffeisen Ware, die Familie lebte in Niederösterreich und Wien durchaus bürgerlich. Eine andere Lebensbiographie wäre durchaus möglich gewesen. APA/EXPA/SEBASTIAN PUCHER
Doch die junge Ulrike Lunacek hatte andere Pläne. Nach einem Austauschjahr in den USA studierte sie in Innsbruck Dolmetsch für Englisch und Spanisch. Sie war etwa beim Aufbau des Innsbrucker Frauenhauses involviert, Redakteurin des Magazins "Südwind" und Obfrau des Vereines "Frauensolidarität". Weitere Stationen der passionierten Schwimmerin, die bei den Eurogames für homosexuelle Sportler zahlreiche Medaillen einsammelte: Der Sportverein für Lesben und Freundinnen "Marantana", das Österreichische Lesben- und Schwulenforum sowie das Wiener "TheaterBrett", wo sie als Pantomime auftrat. APA/HERBERT NEUBAUER
Ihre parteipolitische Karriere begann Lunacek 1995, als sie erstmals für den Nationalrat kandidierte, jedoch etwas überraschend angesichts des enttäuschenden Abschneidens der Grünen scheiterte. Entschädigt wurde Lunacek ein Jahr später, als sie zur Bundesgeschäftsführerin avancierte. 1999 gelang schließlich der Sprung in den Nationalrat, dem sie bis zum Wechsel ins Europaparlament im Jahr 2009 angehörte. APA/HERBERT NEUBAUER
Was Lunacek da wie dort auszeichnete, war der Drang zur Sachpolitik. Wichtig war ihr, die seit vielen Jahren in einer Beziehung mit einer Peruanerin lebt, stets die rechtliche Gleichstellung Homosexueller. In der Europapolitik wurde der Kosovo zu ihrer Schwerpunkt-Region. Dort war sie Berichterstatterin des Europaparlaments. APA/HERBERT NEUBAUER
Wegen ihres Engagements ist Lunacek weit über die eigenen Parteigrenzen anerkannt. Auch innerhalb der Grünen wird wenig Negatives über sie berichtet. Als Schwäche gesehen wird allenfalls, dass sie als ein wenig beratungsresistent gilt. Volkstümlichkeit ist nicht Lunaceks größtes Atout, aber an sich schlägt sie sich auch im Kontakt mit der nicht unbedingt grün-affinen Wählerschaft ordentlich, sonst hätte sie als Spitzenkandidatin bei der EU-Wahl 2014 wohl auch nicht jene 14,5 Prozent erreicht, die bis heute das beste Ergebnis ihrer Partei bei einem bundesweiten Urnengang bedeuten. (Bild: Conchita Wurst und Lunacek) APA/EPA/OLIVIER HOSLET
Dass es diesmal nicht geklappt hat, muss man ihr nicht ankreiden. Sie hat das geboten, was man von ihr erwarten konnte, ein klassisches Kernschichten-Programm, freundlich-sachlich vorgetragen. Echte Fehler der Spitzenkandidatin blieben aus. Es mag jedoch sein, dass eine andere Persönlichkeit besser zur aktuellen Situation gepasst hätte, doch war das G'riss um den Job nach dem überraschenden Abgang von Eva Glawischnig und dem Abschied von den Jungen Grünen nicht gerade groß. APA/HELMUT FOHRINGER
Zur Person: Ulrike Lunacek wurde am 26. Mai 1957 in Krems an der Donau geboren. Sie studierte Englisch- und Spanisch-Dolmetsch an der Universität Innsbruck, engagierte sich national und international im Frauen- und Sozialbereich, arbeitete als Journalistin und ist seit den 1990er-Jahren bei den Grünen aktiv. 1996 wurde sie Bundesgeschäftsführerin erstmals in eine bedeutende Funktion. Von 1999 an war Lunacek ein Jahrzehnt Mitglied des Nationalrats, ehe sie ins Europaparlament wechselte, wo sie es bis zur Vizepräsidentin brachte. Bei ihrem zweiten Antritt als Spitzenkandidatin für eine EU-Wahl erzielten die Grünen im Jahr 2014 14,5 Prozent und damit das historisch beste Ergebnis bei einem bundesweiten Urnengang. REUTERS
Ulrike Lunacek: Die ''europäische Stimme'' wurde nicht gehört
Lunacek wiederum zieht sich aus all ihren Funktionen zurück – auch aus dem EU-Parlament. „Ich stehe zu meinem Wort – ich gehe nicht zurück ins Europaparlament“, sagte sie vor der Presse. Nachfolgen wird ihr in Brüssel mit 8. November der steirische Biobauer Thomas Waitz. Lunacek gibt auch ihre Funktion im grünen Bundesvorstand ab. „Ich werde eine Pause einlegen“, sagte sie. „Das ist kein leichter Schritt, aber ein notwendiger Schritt.“ Es brauche einen Neustart für die Grünen, damit diese – davon sei sie überzeugt – in den Nationalrat zurückkehren. „Wir beide setzen jetzt den Anfang.“
Freilich hat Lunacek, die bei der Europawahl 2014 mit 14,5 Prozent für das beste grüne Bundesergebnis aller Zeiten sorgte, am grünen Wahldebakel wohl nur einen kleinen Anteil. Sie entschied sich in einer ohnehin schon schwierigen Situation für die Kandidatur. Die Austria Presse Agentur bezeichnete Lunacek zuletzt gar als „grüne Märtyrerin“. „Es war nicht so, dass sich viele andere gefunden hätten, die gesagt hätten, ich würde das gerne machen“, sagte Felipe über die Situation, in der sie nach dem Rücktritt von Eva Glawischnig die Partei übernahm. Die Lage sei schwierig gewesen, man habe auch viele Fehler gemacht. „Heute sitzen wir da und übernehmen Verantwortung dafür, dass die Mission nicht gelungen ist.“
Rund fünf Millionen Euro Schulden
Der Rauswurf aus dem Parlament bringt aber nicht nur an der Parteispitze personelle Konsequenzen mit sich. Durch den Wegfall der Parteien- und Klubförderung muss praktisch das gesamte Personal gekündigt werden. Dabei handelt es sich um rund 90 Mitarbeiter im Parlamentsklub sowie weitere 20 in der Bundespartei. Möglichkeiten, diese Mitarbeiter anderswo unterzubringen, gibt es kaum. Die Landesparteien verfügen nur über beschränkte Mittel – und die werden benötigt, um die Bundespartei zu unterstützen.
Für "die Ingrid", wie Tirols Landeshauptmann-Stellvertreterin Felipe sich nicht nur selbst auf Twitter nennt, sondern auch von Parteifreunden betitelt wird, sollte es ein großer Karriereschritt werden. Geworden ist daraus ein Kurzzeitexperiment. Die 39-Jährige folgte am 26. Juni der zurückgetretenen Eva Glawischnig als Parteichefin der Grünen nach - um der Parteispitze am 17. Oktober wieder den Rücken zu kehren. APA/HERBERT PFARRHOFER
Unter der studierten Betriebswirtin legten die Grünen bei der Tiroler Landtagswahl im Jahr 2013 1,86 Prozentpunkte zu und landeten mit 12,59 Prozent auf dem dritten Platz. Zudem gewannen die Grünen ein zusätzliches Mandat. Einziger Wermutstropfen war, dass ihr das beste Ergebnis in der Geschichte der Tiroler Grünen verwehrt blieb. Dies holte die Öko-Partei unter ihrem Urgestein Georg Will bei der Landtagswahl 2003 mit 15,59 Prozent, was bis dato den größten Sieg bei Landes- oder Bundeswahlen bedeutete. APA/HELMUT FOHRINGER
In lediglich drei Sondierungsrunden führte Felipe das Grüne Verhandlungsteam in Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP. Als Ernte wurden zwei grüne Landesräte und die Agenden Umwelt- und Klimaschutz, Verkehr, Frauen, Soziales und Integration eingefahren. Zupass kam Felipe freilich, dass sie im Wahlkampf kein Porzellan zerbrochen hatte, und gegenüber der ÖVP einigermaßen konziliant auftrat. APA/HELMUT FOHRINGER
Das setzte die 39-Jährige, die letztlich wohl doch eher der "Realo"-als der "Fundi"-Fraktion zuzurechnen ist, auch in der Regierungsarbeit fort. Ihr Verhältnis zu Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) gilt als ausgezeichnet und ist von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Prekäre Themen umschiffte man in der Koalition einmütig. An der Seite von Platter wurde ihr Auftreten auch bei öffentlichen Auftritten nach und nach souveräner. Bis auf verhaltene Kritik hie und da wurde die Regierungsarbeit auch in der Grünen Basis durchaus mit Wohlwollen aufgenommen. APA/THOMAS BÖHM/TT
Felipe wurde am 22. August 1978 in Hall in Tirol geboren. 1997 legte die 39-Jährige die Matura an der Handelsakademie in Innsbruck ab. Danach absolvierte die langjährige Handball-Spielerin das Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Innsbruck und arbeitete unter anderem im Projektmanagement bei diversen Veranstaltungen des Tiroler Handballverbandes sowie als Büromanagerin in einem Architekturbüro. APA/THOMAS BÖHM/TIROLER TAGESZEI
Von 2005 bis 2010 fungierte die Mutter eines Sohnes als Finanzreferentin der Grünen. Seit November 2009 bekleidet sie das Amt der Partei-Landessprecherin. Im Mai 2012 zog Felipe als Nachfolgerin der aus gesundheitlichen Gründen ausgeschiedenen Abgeordneten Maria Scheiber in den Tiroler Landtag ein. Im Mai 2013 wurde sie vom Tiroler Landtag zur LHStv. und Landesrätin unter anderem für Umwelt- und Klimaschutz sowie Verkehr gewählt. APA/ALINA PARIGGER
Seit Februar 2016 war sie auch stellvertretende Bundessprecherin, damals folgte sie der Wiener Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou in diesem Amt nach. Innerhalb der Partei gilt Felipe, die sich laut eigenen Angaben unter anderem von Bert Brecht, Victor Hugo, Maria Ebner-Eschenbach und Richard David Precht inspirieren lässt, durchaus als gute Netzwerkerin. APA/HELMUT FOHRINGER
"Die Ingrid": Vier Monate an der grünen Parteispitze
Die hat noch an den Kosten für Präsidenten- und Nationalratswahlkampf zu knabbern. Felipe sprach von rund fünf Millionen Euro Schulden, für die die Landesorganisationen einspringen sollen. „Sie sind bereit, solidarisch zusammenzustehen.“ Es wird jedenfalls nicht besser: Die Bundesförderung schrumpft dramatisch. Dieses Jahr hatten die Grünen noch Anspruch auf insgesamt 8,9 Millionen Euro, davon 3,4 Millionen Euro Klubförderung. Nun erhalten sie zunächst eine Einmalzahlung von knapp 500.000 Euro. Auf diesen Ersatz der Wahlkampfkosten haben auch jene Parteien Anspruch, die an der Vier-Prozent-Hürde scheitern, aber mehr als ein Prozent der Stimmen erreichen.
Auch die Auflösung des Klubs wird hohe Kosten verursachen: Es gibt zwei Arten von Beschäftigten: Solche, deren Vertrag mit Ende der Legislaturperiode ausläuft, und andere mit einem unbefristeten Vertrag, der aufgrund der Kündigungsfristen bis Ende März bezahlt werden muss. Ob sich das aus den Rücklagen des Klubs ausgeht, ist offen. Wobei: Ganz aufgelöst wird der grüne Parlamentsklub noch nicht. Die Grünen haben aufgrund der guten Ergebnisse in den Landtagen noch vier Bundesratsabgeordnete, die auch Klubstatus haben.
Der grüne Absturz in den Städten.(c) Die Presse, Grafik
Und auch die drei EU-Abgeordneten gehören dem Parlamentsklub an. Allerdings wird die Klubförderung deutlich geringer ausfallen als die derzeit ausbezahlten 3,4 Millionen Euro jährlich. Laut dem Politikwissenschafter Hubert Sickinger kommen zwei Beträge infrage: Jedenfalls der für jeden Bundesrats- und EU-Mandatar zustehende Zusatzbetrag von je rund 26.400 Euro (in Summe 185.000 Euro). Unklar ist, ob den Grünen zusätzlich auch die Bundesrats-Fraktionsförderung von 174.280 Euro zusteht. Die Grünen verlieren übrigens nicht nur Geld, sondern auch Räumlichkeiten. Bis zur konstituierenden Sitzung des Parlaments müssen sie ihre Klubbüros räumen.
Die Ursachenforschung hat bei den Grünen nun jedenfalls schon voll begonnen. Die Wiener Grünen-Chefin Maria Vassilakou sagte gegenüber der ORF-Sendung "Wien heute", dass man sich inhaltlich breiter aufstellen müsse, "man wirft uns manchmal zu recht vor, zu sehr zu moralisieren". Sie werde eine "aktive Rolle" in der Bundespolitik einnehmen. Der Vorarlberger Landessprecher Johannes Rauch sieht auch strukturelle und inhaltliche Probleme. Er wünscht sich eine „de facto Neugründung der Partei“. Die müsste in dem Fall nun wohl Werner Kogler übernehmen.
Nationalratswahl 2017
Detailergebnisse zu Bundesländern, Bezirken und Gemeinden sowie Wahlbeteiligung, Mandatsverteilung, Koalitionsrechner und Wählerstromanalyse finden Sie im "Presse"-Wahlcenter.
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Es geht um das Thema Schulden sowie den Abbau der mehr als 100 Mitarbeiter. Außerdem wird sich Interims-Parteichef Kogler offiziell das Mandat für seine Funktion holen.
Der langjährige Grüne legt in seiner Kritik an der Partei nach. Diese habe nun Schulden, aber keine Mitarbeiter - weil man sie zu einem "Kartenhaus gemacht" habe. Und er fragt: Wer soll nun reparieren, "was Ihr zerstört habt"?
Der interimistische Chef der Grünen kündigt Aufräumarbeiten in seiner Partei an. Denn: "Jetzt ist mal so richtig Krise." Die Bundesgrünen hätten "total versagt", räumt er ein. Ein erster Schritt sei nun der erweiterte Bundesvorstand am Freitag.
"Da hat sich bei vielen ein Ton eingeschlichen, wo uns die Leute gesagt haben, die hören uns nicht mehr zu, die wollen uns belehren, die haben den Zeigefinger eingebaut", sagt der ehemalige Bundessprecher der Grünen selbstkritisch.